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Die dunkle Seite der Wahrheit

Mit der Lüge ist das so eine Sache, die einfach aussieht und doch ungeheuer kompliziert ist. "Du sollst nicht lügen!" lesen wir in den Zehn Geboten und jeder ist nur zu leicht bereit, bei dieser Aussage zustimmend mit dem Kopf zu nicken.
Daß man nach Möglichkeit nicht lügen sollte ist einleuchtend. Menschliches Zusammenleben wäre kaum möglich, wenn Lügen eine allgemeine Übung wäre und jeder jeden ständig anlügen würde. Es gäbe keine Verläßlichkeit im menschlichen Miteinander, klar.

Wer aber hat die Behauptung aufgebracht, daß man nie, niemals lügen dürfe und daß dies der höchste Stand moralischer Vollkommenheit auf diesem Gebiet sei?
Es liegt auf der Hand, daß der Spruch von Leuten stammen muß, die wesentlich häufiger Leute nach etwas fragen als selber ihrerseits von jemand anderem gefragt werden. Solche Leute wollen natürlich nicht angelogen werden.
Die Forderung nach Wahrhaftigkeit ist also eine, die von oben nach unten geht. Von dir als Bürger erwartet man Wahrhaftigkeit, du sollst nicht lügen, wenn du was sagst, wenn man dich was fragt. Ein Fürst, ein Politiker, aber galt und gilt immer noch als völlig verrückt, wenn er wahrheitsgemäße Aussagen auch dann macht, wenn diese Aussagen ihm oder dem von ihm vertreten Gemeinwesen schaden.

Leute, die neuerdings den Islam studieren, weil sie dem Islam (und damit eigentlich den Moslems) nur zu gerne an den Karren fahren wollen, haben die sogenannte Taqqiye entdeckt und zeigen mit anklagendem Finger darauf. Taqqiye, das ist das Verschweigen der eigenen Religion, wenn Lebensgefahr droht. Muslime, die unter der Autorität der Ungläubigen stehen und Angst um sich haben, sollten sich den Ungläubigen gegenüber in Worten loyal geben, während sie weiterhin inneren Abstand wahren sollen.
Puh, Empörung, diese Moslems aber auch.

Prügelt mich, aber ich kann an dieser Taqqiye nichts Schlechtes finden. Wenn ich eine, irgendeine (oder auch keine) Religion habe und die mich umgebenden Menschen es für eine gute Idee finden, Anhänger dieser (Nicht-)Religion zu erschlagen (und dazu auch in der Lage sind), dann werde ich nicht so freundlich sein, solchen Leuten ihr Totschlagsgeschäft dadurch zu erleichtern, daß ich mir ein Zeichen auf den Kopf male: Ich bin ein Tark, ich bin ein Schnark, erschlagt mich!
Der Hase bleibt auch nicht stehen und stellt sich dem Fuchs zum Kampf, er läuft vor ihm davon. Andere Tiere tarnen sich und machen sich für das Raubtier unsichtbar oder unriechbar. Das ist keine Feigheit, das ist die Waffe des Kleinen gegen den Großen; der Fuchs verhungert, wenn es nur noch schnelle Hasen gibt.

Stell dir vor, ich wäre evangelisch und die Truppen des katholischen Grafen klopften an meine Tür.
"Hör mal, Heinrich, wir haben gehört, du wärst evangelisch. Wir können uns das gar nicht vorstellen, du wirkst so vernünftig, bestimmt bist du katholisch oder willst es jetzt werden, gell?"
"Aber natürlich, Hochwürden, bin ich katholisch oder will es jetzt werden. Ganz klar. Wo ist die Liste mit den Dingen, denen ich abschwören soll? Ah, da ist sie ja." Liest aufmerksam die Liste. "Gut, Hochwürden, hiermit schwöre ich all dem ab. Wo ist das nächste Taufbecken, bitte?"
Und jetzt stell dir vor, dergleichen würde nicht nur ich machen, sondern viele, viele, fast alle, die man so bedrängt. Die Prediger mit Feuer und Schwert kämen ganz schön ins Schwitzen. Alle Evangelischen, Juden, Moslems und Hindus in ihrem Einflußbereich wären jetzt zwar katholisch, aber jedem wäre klar, daß man sich auf diesen Sauhaufen nicht verlassen kann. Einige, das sagt uns die Lebenserfahrung, sind jetzt zwar wirklich und echt bekehrt, aber wer? Du siehst, wie all die früheren Protestanten, Juden, Moslems etc. am Sonntag nach vorne schlappen, die Hl. Kommunion zu empfangen, aber du weißt ganz genau, daß es beim Großteil von denen nur Affentheater ist, daß sie sich hinter deinem Rücken totlachen über deine Dämlichkeit.
Das Bekehren mit Feuer und Schwert wäre bald aus der Mode gekommen.

Erzieher kennen die leidige Geschichte: Wer wertet wird beschissen. Wer Regeln für das Handeln und Denken vorgibt, der wird belogen und betrogen, und er wird es umso mehr, je strenger er diese Regeln vorgibt. Der strenge Erzieher macht sich selbst zum Kasper, der ständig wie ein Idiot hinter den Kindern herspionieren muß, weil er genau weiß, daß das, was sie ihm sagen, Unfug ist.
In manchen Ländern war und ist das Aussprechen bestimmter Gedanken verboten oder doch verpönt und mit Strafe oder Nachteilen bedroht. Nun weiß jeder, daß Gedanken nicht dadurch verschwinden, daß man ihr Aussprechen verbietet. Das hat zur Folge, daß man einen gigantischen Spitzelapparat aufbauen muß, um herauszufinden, was die Leute wirklich denken.

Wenn mir der Stärkere den Treueschwur aufnötigt, dann leiste ich ihn. Wenn sich der Stärkere aber auch nur einen Moment lang umdreht, hau ich ihm mit dem Knüppel auf den Kopf. Wäre diese Art von Ethik verbreiteter, würde die Herrschaft von Menschen über Menschen sehr, sehr schwierig.
Diese Ethik ist in hohem Maße subversiv, sie untergräbt Autorität, statt sie zu fördern. Gehorsam würde nur mehr so weit funktionieren, wie das Schwert reicht - und das reicht nicht sehr weit. Macht funktioniert, weil die Leute loyal sind. Sie gehorchen Befehlen, die ihnen widerstreben, auch dann, wenn kein Polizist neben ihnen steht, weil sie sich durch einen Eid oder was auch immer zum Gehorsam verpflichtet fühlen. Besatzerregimes können ein Lied davon singen, wie schwierig und teuer es ist, eine Bevölkerung zu beherrschen, die ihnen genau diese Loyalität verweigert.
Wenn Mao Tse Tung einst schrieb, alle Macht komme aus den Gewehrläufen, so kann ich ihm nicht zur Gänze widersprechen. Allerdings muß ich ergänzen, daß die Macht mindestens genau so stark aus den Büchern der Philosophen und Religionsgründer kommt, die uns die Unterwerfung unter den Willen eines anderen predigen, die uns lehren, loyal und gehorsam zu sein, ohne gründlich zu prüfen, ob der Herrscher unserer Loyalität, unseres Gehorsams auch würdig ist. Ein Philosoph, ein Prophet, ein Prediger ist wirkmächtiger als viele Militärkasernen - und ungleich billiger.

Was wäre, wenn (erzwungene) Treueide nicht mehr voraussetzungslos ernst genommen würden? Würde die Welt in Chaos und Wahnsinn versinken?
Nein. Es würde dazu führen, daß Mächtige bei weitem nicht mehr so mächtig wären, wie sie es jetzt sind. Es würde dazu führen, daß die Anordnenden sich mit den Subjekten ihrer Anordnungen arrangieren müßten, daß die Anordnungen so gestaltet sein müßten, daß sie von den Nicht-Mächtigen eingesehen und freiwillig befolgt werden.
Oder, wie es einst schon der Lindinger-Opa formulierte: "Anarchie ist machbar, Herr Nachbar."