Je
Textverarbeitung desto Wissenschaft
Von
Karl Marx stammt der berühmte Satz "Das Sein bestimmt das
Bewußtsein". Gemeint ist damit, daß Ideen nicht einfach so entstehen, neue
Ideen nicht einfach so aus alten Ideen entstehen. Ideen lassen sich vielmehr
aus den materiellen Gegebenheiten ableiten, in denen Menschen leben. Menschen
schnitzen sich jeweils die Ideologie, die zu ihren jeweiligen materiellen
Lebensbedingungen paßt.
Das
gilt für die großen Ideen und für die kleinen.
Wie
sehr das menschliche Denken und Handeln von ganz elementaren Bedürfnissen und
Zwängen gesteuert wird, dafür gibt die Geschichte der Medizinisch-Psychologischen
Untersuchung (MPU)ein eindrucksvolles Beispiel.
In
den Siebzigern und bis in die Achtziger Jahre hinein war die
Medizinisch-Psychologische Untersuchung zum Thema Alkohol ein Papiertiger. Eine
Positivquote von 80 bis 90 Prozent ließ die MPU in den Köpfen der Menschen fast
zu einer bloßen Formalität werden. Wenn der Alkoholmißbrauch bislang noch keine
schwerwiegenden medizinischen Schäden hinterlassen hatte, wenn der Kandidat
sich einigermaßen reuig und änderungsbereit gab, war der MPU-Gutachter
optimistisch und schrieb ein positives Gutachten.
Diese
Zeiten sind vorbei. Seit Mitte der Achtziger Jahre ist die Positivquote sehr
schnell gesunken und liegt heute bei ca. 20 bis allenfalls 30 Prozent.
Womit
ist diese dramatische Veränderung zu erklären? Haben Medizin, Biochemie oder
klinische Psychologie auf dem Gebiet der Alkoholforschung im Laufe von zehn,
fünfzehn Jahren so gewaltige Fortschritte gemacht, daß dadurch dieser enorme
Wandel in den Beurteilungskriterien plausibel würde?
Es
gibt keine Anhaltspunkte dafür, was auch nicht weiter verwunderlich ist.
Schließlich ist Alkohol in unserem Kulturkreis die verbreitetste Rauschdroge,
Alkoholiker die besterforschten Betäubungsmittelkonsumenten. Man kennt die
biochemischen, medizinischen und psychologischen Auswirkungen des Alkohols
schon zu lange, als daß wirklich große Überraschungen noch zu erwarten wären.
Auch
in den frühen achtziger Jahren schon wußte der Allgemeine und Klinische Psychologe sehr gut
um die Effekte der Alkoholgewöhnung, um die Hartnäckigkeit von
Gewohnheitsbildung und schließlich Sucht Bescheid. Nur der Verkehrspsychologe
tat, als hätte er nie davon gehört und verbreitete in seinen Gutachten einen
haarsträubenden Optimismus.
Die
Erklärung für diese äußerst merkwürdige Gutgläubigkeit liegt in der
Schreibmaschine.
In
den Siebziger Jahren, als Computer noch Ungetüme von den Ausmaßen eines
Schrankes waren und in der Preisklasse eines Mittelklassewagens lagen, war die
elektronische Textverarbeitung für ein normales Büro absolut unerschwinglich.
Eine IBM-Kugelkopfmaschine war noch Anfang der Achtziger Jahre das höchste an
Schreibkomfort.
In
der guten alten Zeit der MPU bestand ein Positivgutachten aus einem Formblatt,
auf welchem der Gutachter lediglich einige Informationen anzukreuzen hatte,
ergänzt durch ein, zwei frei formulierte Sätze. Mehr Platz war auf dem
Formblatt für eine individuelle Beurteilung nicht. Auch mit einer
Schreibmaschine war ein positives Gutachten innerhalb weniger Minuten fertig
geschrieben.
Das
Negativgutachten war im Gegensatz dazu eine wirklich individuell abgefaßte
mehrseitige maschinegeschriebene Beurteilung. Zwar standen ganze Absätze dieser
Beurteilung fertig formuliert in einem Aktenordner zur Auswahl vor, aber auch
diese immer wiederkehrenden Floskeln und Standardformulierungen mußten von
einer Schreibkraft jeweils neu abgetippt werden.
Eine
Heidenarbeit, die insgesamt Stunden in Anspruch nahm.
Seit
Mitte der Achtziger Jahre wurde die elektronische Textverarbeitung mittels PC
in den Medizinisch-Psychologischen Untersuchungsstellen des TÜV eingeführt. Für
die vorgeschriebenen Formeln, die Floskeln und die immer wiederkehrenden
Argumentationslinien gab es nun Textblöcke, die aus dem Computer mit wenigen
Kennbuchstaben abzurufen waren. Negativgutachten waren jetzt (fast) genauso
schnell und ökonomisch zu schreiben wie Positivgutachten. Und die
Beurteilungskriterien verschärften sich.
Eine
Negativquote, wie sie jetzt üblich ist, wäre mit der Technologie der
Kugelkopfschreibmaschine nicht zu schaffen gewesen. 70/80 Prozent negative
Gutachten oder Gutachten mit Kurszuweisung - die Arbeit einer
Medizinisch-Psychologischen Untersuchungsstelle wäre zusammengebrochen.
Kein
praktisch tätiger Verkehrspsychologe hätte sich in den frühen achtziger Jahren die heute
gängigen Erkenntnisse über Alkoholmißbrauch und Rückfallgefahr leisten können,
denn diese Erkenntnisse wären nicht in praktische Arbeit umzusetzen gewesen.
Man konnte sich damals die heutigen Erkenntnisse nicht leisten - also leistete
man sie sich ganz einfach nicht.
Von
der Struktur her ist das derselbe Mechanismus, den wir beim Trinker finden, der
sein Alkoholproblem vor sich selbst verharmlost. Würde ich mir mein
Alkoholproblem schonungslos klarmachen, müßte ich etwas dagegen unternehmen.
Für Gegenmaßnahmen bin ich momentan aber noch zu schwach, also gibt es kein
Alkoholproblem bei mir.