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Soldaten sind keine Mörder?

Was dem Beobachter an der leidenschaftlichen Debatte über den Satz "Sol­daten sind Mörder" am meisten auffällt, ist der Umstand, daß sie nicht stattfindet.

Das war nicht immer so. 1984 hatte ein Frankfurter Arzt das von Kurt Tucholsky geprägte Wort aufgegriffen, und damit eine viele Jahre dauernde, in den Medien und Gerichtssälen aus­getragene Diskussion entfacht. Die Leidenschaft der Diskussion war seinerzeit eine rein aka­demische, die Bundesrepublik Deutschland ein Staat im Frieden.

Die verlorene Unschuld der Bundeswehr

1994 entschied das Bundesverfassungsgericht für einen Verbreiter des Wortes. Dem Kern der Aussage fei... - sagen wir nicht "feige", sondern: - behutsam ausweichend begründeten die Verfassungsrichter ihren Freispruch vom Vor­wurf der Beleidigung und Volksverhetzung so: Mit dem Begriff "Mörder" könnten Bundes­wehrsoldaten gar nicht gemeint sein, da "die Bundeswehr seit ihrer Gründung noch nicht an einer bewaffneten Auseinandersetzung teilgenommen (habe) und so noch niemand im Rah­men eines Krieges getötet worden (sei)".

Mit dieser Begründung wäre heute kein Prozeß mehr zu gewinnen. Peu à peu (und plan­mä­ßig) ist die Öffentlichkeit an die "ge­wach­se­ne Verantwortung" der "neuen Weltmacht Deutsch­land" gewöhnt worden, vom "be­grüßens­werten Sanitätseinsatz" in Südostasien über die "hu­­­manitäre Hilfs­aktion" in Somalia, bis zu den "kampf­be­glei­ten­den Aufklärungsflü­gen" in Bosnien. Die erste pazifistische Partei, die in Deutschland jemals in einer Regierung war, be­endete 1999 die Vorkriegszeit und ließ in Jugoslawien Bundeswehrflugzeuge erstmals mit­bomben. Die Teilnahme der Bundeswehr am Afghanistan-Krieg war danach bereits politi­sche Routine.

Die Rechtslage von 1994 stützt sich also auf einen Sachverhalt, der seit 1999 nicht mehr ge­geben ist. Inzwischen sind Menschen von Bundeswehrsoldaten getötet worden.

Es stellt sich demnach erneut die Frage, ob (Bundes­wehr‑)­Sol­da­ten Mörder sind - und wenn nicht, was dann.

"Mörder" - mehr als ein Schimpfwort

Es soll hier versucht werden, die seinerzeit sehr aufgeregt geführte Diskussion über die an­geblich mordenden Soldaten so gut es geht auf einer sachlichen Ebene abzuhandeln.

An den Diskussionsbeiträgen von damals fällt auf, daß sich die Debatte fast aus­schließ­lich um die Frage drehte, ob der Satz "Soldaten sind Mörder" als allgemeine Aussage unter die Meinungsfreiheit fällt oder ob er als Beleidigung eines konkreten Personenkreises aufzufas­sen ist und also bestraft gehört.

So, als wäre "Mörder" ein Schimpfwort, wie etwa "Arsch­loch" ein Schimpfwort ist.

Über den Satz "Erwin ist ein Arschloch" kann ich weder mit Erwin noch mit ir­gend­ je­man­dem sonst sinnvoll diskutieren: Die Behauptung ist inhaltsleer. Jeder hat ein Arschloch, nie­mand ist eines, nicht einmal Erwin. Wer immer Erwin ein Arschloch nennt, will damit Erwin be­leidigen. Er bewertet Erwins Verhalten oder seine Existenz, er stellt keine nachprüfbare Be­hauptung über Erwin auf. Der Beweis der sachlichen Richtigkeit des Satzes ist deshalb prin­zipiell unmöglich.

Das Wort "Mörder" dagegen ist ein präzise definierter juristischer Begriff. Das gibt uns die Möglichkeit, zu prüfen, ob jemand im Sinne des Gesetzes ein Mörder ist - oder eben nicht.

Was ist ein Mörder?

Was bedeutet der Satz "Soldaten sind Mörder" eigentlich genau?

Klar ist, was er nicht bedeutet: Daß es nämlich Soldaten gibt, die auch Mörder sind. Das wä­re zwar richtig, gleichzeitig aber entsetzlich banal. Auch Bäcker, Toyota-Händler, Än­de­rungs­schneider, Krankenschwestern und Diplom-Psychologen sind Mörder. Und Bartträger, Rot­haarige, Einbeinige und Ruderer sowieso.

Der Satz "Soldaten sind Mörder" stellt die sehr viel schärfere Behauptung auf, daß jeder Sol­dat ein Mörder ist, bzw. von Berufs wegen dazu werden kann.

Was aber ist ein Mörder?

§ 211 (Mord), Abs. 2 des Strafgesetzbuches gibt eine beeindruckend lakonische Antwort:

Mörder ist, wer

aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,

heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,

einen Menschen tötet.

§ 212 (Totschlag) ergänzt hierzu, das Thema "vorsätzliche Tötung" ab­schließend:

Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

Die Paragraphen 211 und 212 decken den Begriff der (vorsätzlichen) Tötung vollständig ab. Wer immer (vorsätzlich) einen anderen Menschen tötet, ist demnach entweder "Mörder" oder "Totschläger". Etwas Drittes gibt es laut Gesetz nicht.

Soldaten töten Menschen

Töten Soldaten Menschen?

"Was denn sonst?" werden die ganz Naiven zurückfragen und sie haben, wie so oft, recht.

Natürlich töten Soldaten. Und: Sie töten nicht zufällig oder aus Notwehr oder aus einer un­­mittelbaren Zwangslage heraus, wie das Polizisten manchmal tun, sondern geplant, systema­tisch. Soldaten nehmen den Tod von Menschen nicht in Kauf, sie streben ihn an. Das Tö­ten ist ein wesentlicher Teil ihrer Stellenbeschreibung, es ist der Kern des Soldatenberufes. So wie der Bäcker Brot bäckt, der Tischler Möbel herstellt, so tötet der Soldat Menschen.

Und wenn er gerade nicht tötet, weil sich sein Land im Frieden befindet, so besteht seine Auf­gabe darin, dem möglichen Feind glaubhaft zu vermitteln, daß er entschlossen ist, gege­be­nenfalls Menschen in großer Zahl zu töten.

Es ist so.

Darüber zu diskutieren ist so, als wollte man dem Bäcker sein Brotmachen wegschwatzen.

Sind Soldaten deswegen aber Mörder?

Nun wird aber einer durch die Tötung eines Menschen noch nicht zwangsläufig zum Mör­der. Um Soldaten, jeden Soldaten, "Mörder" nennen zu können, müßte das Tö­tungsgeschäft der Soldaten noch mindestens eine der im Mordparagraphen genannten Bedingungen erfüllen.

Schauen wir uns also diese Bedingungen an.

* Mordlust mag bei manchen Soldaten der Grund für die Berufswahl gewesen sein, die Re­gel ist es nicht.

* Gleiches können wir für eine mögliche Befriedigung des Geschlechtstriebs feststellen. So sicher Sexualmorde im Rahmen eines Krieges vorkommen, so sicher bleiben sie Aus­nahmen.

* Das Mordmotiv Habgier ist schon schwerwiegender, denn kollektive Habgier ist ein - stets geleugnetes, fast immer vorhandenes - Motiv für einen Krieg. Aber: Für den einzel­nen Soldaten spielt das keine Rolle.

* Was die sonstigen niedrigen Beweggründe betrifft, so ist es der Staat, welcher die mora­lische Höhe von Beweggründen zum Gebrauch der Justiz definiert. Nach der geltenden Rechtsprechung jedes Staates ist der gerade laufende Krieg immer ein gerechter Krieg.

* Mancher Staat schickt seine Soldaten in den Krieg, um mit ihm eine andere Straftat zu er­möglichen (z. B. Führung eines Angriffskrieges) oder zu verdecken (z. B. betrügerischer Staatsbankrott). Wo das gegeben ist, trifft das aber sehr viel eher für die auftraggebenden Politiker zu, nicht für die Soldaten.

* Das Begriffspaar heimtückisch oder grausam ist ausgesprochen rätselhaft. Die einzig vor­stellbaren Methoden, einen Menschen auf nicht grausame Weise zu töten, sind solche, die das Mordopfer nicht oder nur ganz kurz mit der entsetzlichen Tatsache konfrontieren, daß er jetzt eben getötet wird: Schlafmittel ins Essen etwa, Erstechen im Schlaf oder ein wohl­gezielter Schuß aus dem Hinterhalt. Unvermeidlicherweise sind diese "scho­nen­den" Tötungsarten dann aber ausgesprochen heimtückisch. Wem die - naheliegende - Theo­rie, der Gesetzgeber sei beim Verfassen dieses Absatzes einfach ein bißchen gaga ge­wesen, als zu gewagt erscheint, der bekommt das nur mit der Annahme auf die Reihe, damit sei eine ganz besondere, exzessive Heimtücke oder Grausamkeit gemeint. Die­se exzessive Heimtücke oder Grausamkeit ist im Krieg die Regel.

* Es bleibt die Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln. Gemeingefährlich ist ein Mittel dann, "wenn der Täter die Wirkung der von ihm entfesselten Kräfte nicht mehr bestim­men und abgrenzen kann." Es ist das Wesen soldatischer Tötungen, daß diese mit Mit­teln geschehen, deren Wirkungen nicht bestimm- und abgrenzbar sind. Kollateralschäden sind eine ganz normale Begleiterscheinung kriegerischer Handlungen.

Leichen und Banknoten - staatliche Monopolprodukte

Und jetzt stehen wir da mit der höchst peinlichen Schlußfolgerung, daß Soldaten eben doch Mörder im Sinne des Gesetzes sind. Einer Schlußfolgerung, die wir gerne vermieden und widerlegt hätten. Was uns jetzt noch retten könnte, wäre ein deus ex machina in Gestalt ei­nes Volljuristen, der uns aufklärt, das Strafgesetzbuch beziehe sich nur auf individuelle Ta­ten. Handlungen, die vom Staat als Ganzem begangen würden, würden vom Strafgesetz gar nicht erfaßt. Das Herstellen von Leichen sei ebenso wie die Produktion von Banknoten nicht ver­boten, sondern lediglich ein streng und eifersüchtig gehütetes Monopol des Staates.

Das wäre die Lösung.

Wäre.

Wenn.

Nach eifrigem Blättern im Strafgesetzbuch müssen wir aber sagen: "Das steht da nicht drin!" Anders als bei der Herstellung von Banknoten ("Wer Banknoten nachmacht oder verfälscht...") sieht das Gesetz bei der Produktion von Leichen keine Ausnahme für den Fall vor, daß die Tötung im Auftrag und auf Rechnung der Bundesrepublik Deutschland geschieht.

Die Peinlichkeit des Soldatenberufes

Aus nachvollziehbaren Gründen zieht der Staat Leute, die er selbst zum Töten losgeschickt hat, für diese Tötungen nicht zur Rechenschaft. Aus nicht ganz so naheliegenden Grün­den hat der Staat jedoch darauf verzichtet, Töter im Staatsauftrag von den Mord- und Tot­schlags­pa­ra­gra­phen ausdrücklich auszunehmen.

Verzichtet, nicht vergessen.

Unser Rechtssystem ist in Jahrhunderten und Jahrtausenden gewachsen, und ist darüber im­mer ausgefeilter geworden. Es hat den Anspruch, alles zu regeln und für alles eine Antwort zu haben oder diese Antwort aus den bestehenden Vorschriften ableiten zu können.

Bei Diskussionen über dieses Thema im Internet, vor allem im Usenet, ist mir entgegnet worden, dergleichen Regelungen fände man nicht im jeweils staatlichen Strafrecht, sondern im Völkerrecht. Im Völkerrecht aber geht es, wie der Name schon vermuten läßt, um die Handlungen von Kollektiven, also souveränen Staaten. Konkrete Tötungshandlungen vollzieht aber nie die Bundesrepublik Deutschland, dies tun jeweils einzelne Menschen im Auftrag des Staates. Nähme der Staat sein eigenes Rechtssystem auch in diesem einen Punkte ernst, so müßte er das Tötungsprivileg der Soldaten explizit in einer Rechtsvorschrift festhalten. Und dies könn­te keine Verordnung oder auch nur ein allgemeines Gesetz sein, sondern es müßte sich um eine Rechtsvorschrift von Verfassungsrang handeln. Immerhin wird durch das Tötungs­pri­vileg der Soldaten das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit - unter bestimm­ten Umständen, dann aber exzessiv - außer Kraft gesetzt.

Daß dies nicht geschieht, läßt tief blicken.

Die Heiligkeit des Lebens

Kommunikationstheorie und Lebenserfahrung sagen dir, daß in einem Gespräch nicht nur das wichtig ist, worüber einer spricht und was er sagt, sondern auch - und oft vor allem - das, wovon er nicht spricht, obwohl er eigentlich darüber reden müßte.

Daß es der Staat so eifrig vermeidet, seinen Soldaten - nur ihnen und nur im staatlichen Auf­trag und nur unter bestimmten Voraussetzungen - das Töten ausdrücklich zu erlauben, läßt den Schluß zu, daß es sich um eine ungemein peinliche Angelegenheit handelt.

Das Leben, sagt ein oft und gern zitierter Spruch, sei heilig und das höchste aller Güter. Ei­ne Rechtsvorschrift, welche Soldaten das Töten nicht nur ausdrücklich erlaubte, sondern un­ter Strafandrohung vorschriebe, würde jedermann deutlich machen, daß die Legende von der Heiligkeit des Lebens genau das ist - eine Legende nämlich.

Eine solche Vorschrift würde schlafende Hunde wecken. Die Diskussion darüber würde bin­nen weniger Tage eine der fundamentalen Lebenslügen jeder zivilisierten Gesellschaft zer­stören.

Soldaten sind keine Mörder, da durch sie das Kollektiv, sprich: der Staat tötet. Der Staat hat das Recht zum Töten, da er sich dieses Recht nimmt und er hat es insoweit, als niemand da ist, ihn daran zu hindern. Und wäre einer da, so könnte er den Staat am Töten nur dadurch hindern, daß er Krieg führt gegen diesen Staat, also seinerseits tötet.

Der Staat ist das Viech in uns, der Staat darf Sachen machen, die uns als Person strengstens verboten sind: Rauben, Morden, Lügen...

Der Staat ist die kollektive Bestie von uns zivilisierten Biedermännern.

Aber klar: Darüber spricht man nicht gern.

Verplappert

Im Oktober 1999 tagte in Berlin eine internationale Konferenz, die sich mit dem Problem der "Kindersoldaten" beschäftigte; jenen Kindern und Jugendlichen also, die in vielen Teilen der Welt mit der Waffe in der Hand töten und krepieren.

Anwesend war auch Außenminister Fischer, jener einstmals pa­zifistische Politiker, der als er­ster Außenminister die Bundeswehr zum Töten ausgeschickt hat. Fischer hielt auf dieser Kon­ferenz eine Rede, in welcher er sich entschieden gegen Kindersoldaten aussprach, dabei hin­zufügte, dies sei kein Problem der dritten Welt alleine. Bei der britischen Armee zum Bei­spiel dienten ca. 6000 Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren. Man müsse das Mindest­alter für den Militärdienst von jetzt 15 (!) auf 18 Jahre heraufsetzen. Es sei eine "Per­ver­si­on", daß Kinder und Jugendliche zu "Tötungsmaschinen" herangebildet würden.

Das Wort muß man sich auf der Zunge zergehen lassen! Wenn Kindersoldaten "Tötungs­ma­schinen" sind, dann sind es - so läßt sich zwanglos folgern - erwachsene Soldaten erst recht, weil sie ja größer, stärker und erfahrener in allen Künsten des Tötens sind.

"Tötungsmaschinen" - das vielumstrittene Wort von den Soldaten, die Mörder seien, hört sich dagegen wie eine kleine, harmlose Frotzelei unter Freunden an.