Als der weithin bekannte und wegen seiner
düsteren Geschichten gefürchtete Schriftsteller Sedlacek noch nicht der
berühmte und wegen seiner kühnen Metaphern vielbelächelte Dichter
Sedlacek war, führte er unter dem Namen Dr. Anselm Korff das aus
Literatur und Literaturgeschichte wohlbekannte Leben eines
Versicherungsangestellten.
Der Begriff "Versicherungsangestellter" ist dabei bereits eine der
vielen Unklarheiten aus einem ganzen Geflecht von Mystifikationen, die
sich wie eine Dornröschenhecke um Leben und Werk von Hans Sedlacek
ranken. Das dem Literaturkritiker Volker Buchholz zugeschriebene Bonmot,
es habe Sedlaceks Vergangenheit als Versicherungsangestellter darin
bestanden, daß er auf Nachfrage immer wieder versichert habe, er sei
angestellt, ist zweifellos witzig formuliert, dennoch unzutreffend.
Das Tragische in Leben und Wirken des notorisch schlecht
informierten Literaturkritikers Volker Buchholz besteht meines Erachtens
darin, daß Volker Buchholz ein ungemein intelligenter, ja brillanter
Kopf ist, der aus gegebenen Tatsachen mit großer Sicherheit absolut
richtige, manchmal sogar verblüffend zutreffende Schlußfolgerungen zu
ziehen imstande ist. Da er jedoch ‑ notorisch schlecht informiert, wie
er ist ‑ meistens von mehr oder weniger falschen Voraussetzungen
ausgeht, sind seine Denkergebnisse, bei aller formalen Brillanz und
logischen Stichhaltigkeit, in der Regel ziemlicher Unfug.
Nun gibt es Leute, die behaupten, daß gerade dies der Grundstock
von Buchholzens Karriere sei und immer schon gewesen sei. Plattköpfe,
wie es viele Leser und die meisten Kollegen von Buchholz seien, genössen
es, mit ihrem Gestammel ‑ wenn nicht in der Herleitung, so doch im
Ergebnis ‑ selbst einem so brillanten Kopf wie Volker Buchholz überlegen
zu sein.
Im Falle von Sedlacek hatte Buchholz sogar ein wenig recht. Sedlacek
war nämlich bei einer Bank tätig, die ihrerseits Teil eines großen
Versicherungskonzerns ist, der wegen seiner ‑ selbst für einen
Versicherungskonzern ‑ ausgesprochen dubiosen Geschäftspraktiken in
Börsenkreisen großes Ansehen genießt.
Aufgabe des Diplom-Informatikers Dr. Anselm Korff war es, den Unfug
aus den Computerprogrammen des Konzerns zu entfernen, ohne dabei den
Unfug in den gespeicherten Daten anzutasten. Das sei, erzählte Sedlacek
später in einem Interview, anfangs eine Heidenarbeit gewesen. Das von
minderen Literaten an dieser Stelle gerne gebrauchte Wort
"Sisyphusarbeit" versagte sich Sedlacek bewußt, da Sisyphus, wie
erinnerlich, keinen Erfolg mit seiner Arbeit hatte und immer wieder von
neuem beginnen mußte. Korff hingegen hatte das System bald so gut im
Griff, daß es nur durch grobe Bedienungsfehler auf höherer
Operator-Ebene aus dem Gleichgewicht geworfen werden konnte.
Um sich selbst nicht überflüssig und damit arbeitslos zu machen, war
Korff also gezwungen, den Wert seiner Arbeitskraft für die Bank dadurch
unter Beweis zu stellen, daß er selber Fehler in das Programm
einschleuste und dann darauf wartete, bis sie bemerkt wurden. Da er nur
zu genau wußte, wo der Fehler zu suchen war, hatte er ihn schnell
behoben, verstand sich aber hervorragend darauf, nach außen hin den
Eindruck einer ungemein aufwendigen und komplizierten Tätigkeit zu
vermitteln.
Es leuchtet ein, daß er dadurch eine Menge Zeit hatte. Zeit, die er
gezwungenermaßen an seinem Computerterminal im Büro absitzen mußte, denn
nur so konnte er den erwünschten Eindruck höchster Geschäftigkeit
vermitteln. Langeweile war die Folge und die Folge dieser Langeweile
waren Korffs erste literarische Versuche, lustig-sarkastische
Kurzgeschichten. Sedlacek war damit auf Umwegen zu seinem Jugendtraum
zurückgekehrt.
Kinder, die das Naschen mehr als üblich lieben, möchten gerne
Konditor werden, während solche mit Fernweh eine zeitlang den Beruf des
Lokführers oder Flugkapitäns anstreben.
Über seinen geliebten Büchern sitzend, träumte der achtjährige
Korff davon, einst Dichter oder Schriftsteller zu werden. Den
Unterschied zwischen beidem erhoffte er im Laufe seiner Karriere noch
herauszubekommen.
Schon in der Volksschule hatte man entdeckt, daß er ganz
wunderhübsche Aufsätze schreiben konnte, mit einem wirklich
erstaunlichen Wortschatz für so ein Kind und überhaupt, diese Eleganz
und dieser Einfallsreichtum im Ausdruck...
Die Aussicht, dereinst auf Lesungen bewundert und vom Fernsehen
zu Diskussionen eingeladen zu werden, hatte für den fünfzehnjährigen
Korff etwas ungemein Verlockendes. Die mit dem Beruf des Schriftstellers
‑ oder Dichters, den Unterschied hatte er immer noch nicht
herausbekommen ‑ verbundene Möglichkeit, zuhause, und also an jedem
beliebigen Ort der Erde arbeiten zu können, nahm er als zwar nicht
wesentlichen, aber doch angenehmen weiteren Vorteil dieses Berufes mit
in seine Phantasien auf.
Hei, was ein Traum, eines Tages ein schmales Suhrkamp-Bändchen
mit dem eigenen Namen drauf in den Händen zu halten. Oder, genauso gut,
fast noch besser ein dtv-Büchlein mit einem Umschlagentwurf von
Celestino Piatti; Autorenname, Titel, Untertitel auf dem Deckblatt in
Kleinbuchstaben und rechtsbündig ausgerichtet.
Sedlaceks einziges Problem in jenen Jahren war lediglich dies,
daß er nichts hatte, worüber er hätte schreiben können. Die Welt, in der
er selber lebte, die er also gut kannte und hätte beschreiben können,
erschien ihm ungemein öde und langweilig. In dieser Welt passierte
nichts, bzw. das, was darin vorfiel, schien ihm in keiner Weise
berichtenswert.
Geschichten, wirkliche und echte Geschichten passieren in der
argentinischen Pampa oder in den Häuserschluchten von New York, im Rom
der Cäsaren oder im Paris des Werweißwievielten Louis'. Sedlaceks
geographische und historische Kenntnisse waren zwar schon in diesen
jungen Jahren beachtlich, dennoch nicht ausreichend, um einigermaßen
glaubwürdig so interessante und jedermann bekannte Schauplätze
skizzieren zu können; von plausiblen Handlungen, die darin passieren
können, gar nicht erst zu reden.
Sedlaceks Romane wanderten deshalb schon nach
wenigen Seiten, oft schon nach einigen Absätzen, als Fragmente in
die Schublade.
Kurzfristig verfiel Sedlacek auf den Trichter, sich einfach eine Vergangenheit zu erfinden,
die Geschichte also nicht im realen Mittelalter spielen zu lassen,
sondern in einem erfundenen Land, in einer erfundenen,
mittelalterartigen Zeit. Irgendwie aber ist nie was draus geworden,
wahrscheinlich weil er dachte, so was würde kein Mensch je lesen wollen.
Wenn er damals hartnäckiger an dieser Idee gebastelt hätte, hätte
Sedlacek in jungen Jahren schon den Fantasy-Roman erfunden.
Na ja, hat nicht sollen sein.
Sedlacek entzog sich dem Dilemma der themenlosen Kreativität eine
geraume Zeit dadurch, daß er sich für die strengen und exakten
Naturwissenschaften zu interessieren begann. So weit trieb es Sedlacek
mit der Strenge, daß ihm die Physik als zu verwaschen erschien und er
sich auf die Mathematik stürzte.
Damit landete er schließlich bei der Bank, letztendlich also wieder -
wir hatten das schon - bei der seinerzeit verschmähten Literatur.
Nun ist Korff ein Mensch, der immer schon über den Tellerrand der
eigenen Profession hinausgeblickt hat, und wenn er in der Jugend auch
nie eine Kurzgeschichte wirklich zu Ende gebracht hatte, verstand er
doch genug von Literatur, war hinreichend kritisch und selbstkritisch,
um bald zu erkennen, daß ihm mit den jetzt verfaßten
Kurzgeschichten brillant geschriebene Meisterwerke gelungen waren. So
wagte er es denn eines Tages, die Geschichten verschiedenen Verlagen
anzubieten.
Die Geschichten seien brillant geschrieben, in der Tat, er habe sich
köstlich amüsiert, meinte der Lektor eines angesehenen und sehr seriösen
literarischen Verlages, aber man sei ein angesehener und sehr seriöser
literarischer Verlag. Lustige Geschichten seien wohl eher etwas für
einen jener Verlage, die Bücher mit hoher Auflage für das breite
Publikum herausbringen. Alf Andresen, der Lektor eines jener Verlage,
die Bücher mit hoher Auflage für das breite Publikum herausbringen,
schrieb zurück, er habe sich köstlich amüsiert, die Geschichten seien
brillant geschrieben, aber eben: zu brillant. Korffs Art zu schreiben sei für das typische Publikum seines Verlages viel zu literarisch.
Korff tippte sich angesichts der Kreiswanderung seines Manuskriptes
ans Hirn, aber er nahm ab sofort die Sache von der sportlichen Seite.
Das wollte er nun wissen, ob es möglich wäre, irgendwelche Geschichten
irgendwo unterzubringen. Er setzte sich also hin und schrieb neue
Geschichten; lustige Geschichten, das immer noch, aber knalliger,
kräftiger, weniger subtil; weniger brillant auch und das vor allem. Alf
Andresen meinte nun, was Korff da geschrieben habe sei ja nicht
schlecht, das müsse er zugeben - aber: Es sei halt nichts Besonderes,
Dutzendware, Durchschnitt.
Als Mathematiker hatte Korff die ansonsten ausgesprochen seltene
Fähigkeit, in statistischen Kategorien denken zu können. Er frage sich
ernsthaft, schrieb er an Alf Andresen zurück, was an durchschnittlichen
Geschichten auszusetzen sei. Worin bestehe denn die ganz überwiegende
Mehrheit jener Geschichten, die veröffentlicht würden, wenn nicht aus -
bestenfalls - Durchschnitt? Durchschnitt sei ja genau so
definiert.
Der solcherart als Idiot hingestellte Alf Andresen hat nie auf diesen Brief geantwortet.
Das Spiel wiederholte sich, von Beate Brosch bis Zygmunt Ziller und
damit hatte es sich Korff natürlich bei allen größeren Publikumsverlagen
verschissen gehabt, ein für alle mal.
Wenn Korff noch irgendwo ein Bein auf den literarischen Boden bringen
wollte, mußte er dies nun vom anderen Ende der literarischen Werteskala
her tun. Er nahm also die zweite Generation seiner heiteren
Geschichten, die billigeren Geschichten, und schnitt ihnen jeweils die
lustige Pointe weg.
Damit hatte er die Geschichten nicht einfach verkürzt, sondern
radikal verändert. Geschichten dieser Art sind ja meist nach dem
gleichen Muster gestrickt: Ein Konflikt bahnt sich an, läuft bald auf
eine riesige, unentwirrbare Katastrophe zu, bis die Situation
schließlich durch irgendeinen absolut wahnwitzigen Umstand gerettet
wird.
Ohne die Pointen und ohne das unerläßliche Happy-End hatten die
Geschichten jeglichen Unterhaltungswert verloren, zugleich jedoch eine
erfrischend irritierende Offenheit gewonnen.
korff der schalk setzte noch eins drauf und schrieb alles klein ließ
die satzzeichen bis auf die punkte weg und gliederte seine texte nur
noch in ganz wenige absätze so daß das lesen der geschichten wenn nicht
schwer so doch ungemein lästig wurde.
Ein feiner Schachzug, lieben doch Kritiker und Germanisten schwierige Texte, sie geben ihnen Deutungsarbeit und Brot.
Eine Auswahl dieser derart bearbeiteten Geschichten schickte Korff dann an die renommierte literarische Zeitschrift schattenrisse. Leander Grönlein, Verleger, Herausgeber und Chefredakteur der schattenrisse war davon angetan und erklärte sich bereit, eine von Sedlaceks quälend tristen Geschichten zu veröffentlichen.
Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, daß Anselm Korff ein
literarisches Pseudonym annehme. "Korff", meinte Leander Grönlein, sei
ein so ambitioniert literarisches Name, daß man ihn als Namen eines
literarisch ambitionierten Autors nicht verwenden könne. Kein Mensch
nämlich, so argumentierte Leander weiter, heiße wirklich Anselm Korff.
Den naheliegenden Einwand seines neuen Autors, er, Anselm Korff,
heiße aber so, und das nachweisbar seit frühester Kindheit, wischte
Leander mit einer großzügigen Geste und der Bemerkung vom Tisch, das sei
krudester Naturalismus. Entscheidend sei in diesem - wie in jedem
anderen Falle - nicht die Wirklichkeit, sondern das Bild, das sich die
Menschen von der Wirklichkeit machten. Anselm Korffs jedoch seien derart
dünn gesät, daß nur eine verschwindende Minderheit aller potentiellen
Leser einen Anselm Korff in der Bekannt- oder Verwandtschaft habe,
wodurch sich ihm zwanglos der Eindruck aufdränge, es gäbe keine Anselm
Korffs, außer als Helden übertrieben ambitionierter Romane. Wodurch
wiederum dieser übergroßen Mehrheit der Leser ein Autor namens Anselm
Korff als jemand erscheinen müsse, der sich für ein ausgesprochen
geziertes, ja affiges Pseudonym entschieden habe, was ihn in den Augen
kritischer Leser von vorneherein disqualifiziere.
Nun wird jeder sagen, jemand, der Leander Grönlein heißt sollte
vorsichtig sein, wenn er anderer Leute Namen als "zu literarisch"
beurteilt. Dieser Ansicht schloß sich seinerzeit auch Anselm Korff an,
verzichtete aber, davon Gebrauch zu machen, da er seine Geschichte
endlich veröffentlicht wissen wollte. So fügte sich Korff und die
Geschichte erschien unter dem Namen Hans Sedlacek. Der eine Zeitlang im
Raume stehende Vorschlag, es möge sich Dr. Anselm Korff "Franz Sedlacek"
nennen, wurde nach einer gemeinsam durchzechten Nacht von Korff und
Grönlein einstimmig verworfen. Dergleichen wäre denn doch zu dick
aufgetragen.
Die Fachwelt jedenfalls reagierte erfreulich aufmerksam auf den neuen
Dichter, Sedlacek wurde zu Lesungen und Podiumsdiskussionen in
kommunale Kulturzentren eingeladen.
In München-Milbertshofen war nun zu einer solchen Lesung mehrerer
Jungautoren erstmals ein überregionales Fernsehteam nicht nur
eingeladen, sondern auch tatsächlich erschienen. Nicht wegen der
unbekannten Jungautoren, (für die sich, da unbekannt, sowieso keiner
interessierte), sondern wegen der lokalen Kritikerprominenz, die zu
diesem Ereignis ihr Erscheinen fest zugesagt hatte.
Sedlacek las "Fahles Licht", eine deprimierende Geschichte von
geradezu abstoßender Hoffnungslosigkeit. Sie besteht nahezu
ausschließlich aus einer inhaltlich ungemein geilen, formal aber
quälend spröden Fick-Szene.
Als Sedlacek mitten im Lesen war, gab er - vor laufenden
Fernsehkameras! - auf eine ausgesprochen obszöne Weise ungezügelte
Würgelaute von sich; Würgelaute, wie sie heftigem Erbrechen voranzugehen
pflegen. Verwirrt, verzweifelt, zu der verzweifelt verwirrenden
Geschichte passend, die er gerade las, sah sich Sedlacek um und griff
dann nach einer wie zufällig neben ihm auf dem Boden stehenden
Papiertüte.
Die etwas Älteren unter Ihnen erinnern sich noch an die dramatischen
Fernsehbilder, die damals in allen Feuilletons wieder und wieder gezeigt
wurden; an die zahllosen Diskussionen darüber, ob man diese Szenen nun
hätte zeigen sollen oder nicht - wobei man, der besseren Verdeutlichung
wegen, diese Szenen neu und stets noch mal neu zeigte, in Zeitlupe und
rückwärts, mit und ohne Ton.
Mit einem letzten, gräßlichen Würgelaut hatte nämlich Sedlacek die
Papiertüte gepackt und dann hemmungslos seinen Mageninhalt in diese
Papiertüte entleert. Anders ausgedrückt: Vor laufenden Fernsehkameras,
während einer mit hochkarätigen Literaturkritikern besetzten
Autorenlesung kotzte Sedlacek in eine Tüte. Das alleine wäre bereits
eine Meldung in sämtlichen Feuilletons wert gewesen. Sedlacek aber zog
nun, durch den befreienden Akt gesundheitlich sichtlich besser gestellt,
aus seiner Rocktasche einen, wie zufällig dort sich befindlichen Löffel
und begann vor den Augen des entsetzten Publikums - und vor laufenden
Fernsehkameras, wie gesagt - die weiße Masse mit etlich darin
befindlichen roten Brocken stetig löffelnd zu essen. Ein Gutteil des
Publikums wurde erst blaß, dann grün; würgende Laute waren zu hören, die
rasch an Zahl und Intensität zunahmen.
Der Sachschaden war beträchtlich. Zu den Reinigungskosten für den
Versammlungsraum im Kulturzentrum kamen noch die jeweils individuell zu
tragenden Kosten für Reinigung oder Wäsche der beschmutzten
Kleidungsstücke zahlreicher Besucher der Veranstaltung.
Sedlacek aber war mit einem Schlag weit über München hinaus bekannt,
wurde rasch zu einer bundesweit prominenten Persönlichkeit in der
literarischen Welt. Einige Kritiker sprachen von der "beklemmenden
Intensität" seiner deprimierenden Texte, einer von ihnen wollte gar
"immer schon" autokannibalistische Komponenten in Sedlaceks Werk
gefunden haben.
Die Einladungen zu Lesungen mit anschließender Diskussion nahmen zu,
schwollen an, wobei jeder Veranstalter, jeder Besucher einer solchen
Lesung natürlich heftig abgestritten hätte, er hoffe auf eine
Wiederholung des spektakulären Kotzmahles.
Sedlacek seinerseits hütete sich, dergleichen zu wiederholen. Zum
einen, weil er nunmehr als seriöser Autor etabliert war, dies also nicht
mehr nötig hatte und seriöse Autoren ganz einfach nicht öffentlich in
Tüten kotzen, um anschließend Ihr Erbrochenes zu verspeisen. Zum anderen
‑ und dies vor allem - weil er fürchtete, man könnte ihm bei einer
eventuellen Wiederholung des Schauspiels auf den in der Tüte zuvor
versteckten Fleischsalat kommen.
Als schließlich, wenige Monate nach dem spektakulären Auftritt
Sedlaceks der inzwischen heißersehnte Romanerstling "Schatten der
Dunkelheit" im schattenrisse-Buchverlag herauskam, war die erste, eh schon ziemlich hoch angesetzte Auflage binnen einer Woche vergriffen.
Das hört sich einfacher an als es war. Als Sedlacek nämlich genüßlich
seinen Fleischsalat vor seinem reihernden Publikum löffelte, war von
"Schatten der Dunkelheit" weder eine einzige Zeile geschrieben, noch
hatte Sedlacek damals die leiseste Ahnung, daß er einen solchen Roman
würde schreiben wollen. Es war Leander Grönlein gewesen, der in mehreren
Interviews, ohne Sedlacek auch nur zu informieren, vollmundig
angekündigt hatte, es stünde dieser Roman kurz vor der Vollendung und
werde zur Leipziger Buchmesse dem Publikum präsentiert werden. Damit
hatte er sich in Zugzwang und Korff in die Bredouille gebracht.
Schon für einen routinierten, hauptberuflichen Schriftsteller wäre es
eine fast herkulische Tat gewesen, binnen weniger Wochen einen dicken
und dazu hochliterarischen Roman aus dem Hut zu zaubern. Sedlacek, der
ja einem Beruf nachgehen mußte, dem zusätzlich Lesungen und Diskussionen
mehr und mehr von seiner knapp bemessenen Freizeit wegfraßen, erklärte
seinem Verleger gegenüber das Schreiben dieses - aus kommerziellen
Gründen unbedingt und schnell zu schreibenden - Romans für ab - so - lut unmöglich.
Es war wiederum Leander Grönlein, dieser mit allen Salben geriebene Schöngeist, der Sedlacek den Ausweg zeigte.
"Wenn du", so sagte Leander zu Anselm, "deine bereits fertigen
längeren Erzählungen zusammenwirfst, kommst du locker auf den Umfang
eines für 24,90 EUR, was sag ich: 29,90 EUR zu verkaufenden Romans."
"Schon", räumte Sedlacek widerwillig ein, "nur:
Dann hätte ich zwar einen Erzählband, aber immer noch keinen
Roman."
"Du mußt zugeben", entgegnete ihm Leander, "daß deine Geschichten,
nun..." Leander hüstelte. "...daß sie alle ein bißchen arg nach dem
gleichen Muster gestrickt sind."
Sedlacek mußte dies zugeben, wohl oder übel.
"Also, hör zu", sagte Grönlein, "wir machen das so..."
Und so machten sie es dann auch.
Auf Geheiß von Leander Grönlein nahm Sedlacek als Grundlage für
seinen Roman die Erzählungen, die bereits vorlagen, aber noch nicht
veröffentlicht worden waren, mittlerweile ein satter Haufen, wie er zu
seiner eigenen Verwunderung feststellte. In jeder dieser Geschichten
scheiterte der jeweilige Held mit seinen Vorhaben, seien diese
krimineller, ökonomischer oder erotischer Art, um anschließend
unterzugehen. Man kennt das.
Sedlacek machte aus den vielen Helden einen, den immergleichen
blassen, fahlblonden Max Möhring mit den graupensuppentrüben Augen. Und,
ein feiner Kunstgriff, er schachtelte die Erzählungen ineinander. Immer
wenn eine Geschichte sich einem Zwischenhöhepunkt nähert, geht es mit
der zweiten Geschichte weiter, dann mit der dritten etc. Der gesamte
Roman wurde dadurch natürlich ungemein schwer lesbar, durch das jähe
Abbrechen jedweden Spannungsbogens wurde er zähflüssig und bräsig. Aber,
so versicherte ihm der Szene-Kenner Grönlein, das mache nichts, es gebe
hinreichend viele Leser, die sich von einem spannenden, leicht lesbaren
Roman unter Niveau unterhalten fühlten und also dazu neigten,
dergleichen seichte Machwerke geringzuschätzen.
"Aber", wandte Sedlacek ein, "es weiß doch kein Mensch mehr, was das
Ganze eigentlich soll, wenn immer der gleiche Held ständig scheitert und
schließlich stirbt."
"Das macht erst recht nichts", entgegnete Grönlein entschieden, "eben
dies läßt dem Leser und Kritiker viel Spielraum für Deutungen. Und in
zwei Jahren werden wir schon einige Seminar- und Magisterarbeiten über
'das existentielle Rätsel Möhring' haben. Weitere zwei Jahre und es
folgen Doktorarbeiten und Habilitationsschriften. So werden viele durch
uns in Arbeit und Brot gesetzt."
Sedlacek, unerfahren im Geschäft, war nicht überzeugt, er fürchtete
um sein soeben mühsam erworbenes Renommee. Da er aber unter Druck stand,
weil er aus den genannten Gründen einen, und sei es irgendeinen Roman rechtzeitig zur Buchmesse abliefern mußte, fügte er sich seufzend in das Unvermeidliche.
Grönlein - wen wundert es? - behielt recht. Als "Schatten der
Dunkelheit" erschien gaben sich die führenden Literaturkritiker
begeistert und das Lesepublikum schloß sich dieser Begeisterung, nach
kurzem Zögern, an, als Volker Buchholz das vielmalige Scheitern und
Untergehen des immergleichen Max Möhring als "Spiel, ja als
literarisches Experiment mit Variationen der Existenz und des
Untergangs" deutete.
Als sich schließlich der berüchtigte Filmemacher Kunz Knörer
anheischig machte, "Schatten der Dunkelheit" aufwendig zu verfilmen, war
Sedlaceks ökonomische Basis so solide geworden, daß er seine Stelle bei
der Versicherung kündigen und fortan als freier Schriftsteller leben
konnte.