"Richard
III.", bzw. "Kasperl und das Krokodil"
Inzwischen ist es ein
Jahr her, daß ich Shakespeares "König Richard III." zum zweiten Mal
gelesen habe. Seit der ersten Lektüre habe ich immer wieder mal Auszüge daraus
gelesen, gesehen oder gehört. Fast immer die üblichen:
- Eingangsmonolog
- Richard und Lady Anne an der Leiche von deren Schwiegervater
- Schlußszene (nur echt mit dem Pferd, dem Pferd und dem Königreich).
Und fast immer war ich beeindruckt von den Szenen und den Schauspielern, von
Laurence Olivier bis zu Heinz Bennent (sagenhaft!).
Nie ist mir etwas aufgefallen. Und jetzt, beim Wiederlesen war es fast ein
Schock (wenn das Wort für ein Leseerlebnis nicht gar so unpassend wäre).
Noch bevor irgend etwas passiert ist tritt der Held auf und sagt dem Publikum,
daß er ein Schurke sei. Und nicht nur das, er analysiert auch noch ganz cool,
warum er das sei und ein noch größerer werden wolle.
Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt,
Von der Natur um Bildung falsch betrogen,
Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
Daß Hunde bellen, hink' ich wo vorbei;
Ich nun, in dieser schlaffen Friedenszeit,
Weiß keine Lust, die Zeit mir zu vertreiben,
Als meinen Schatten in der Sonne spähn
Und meine eigne Mißgestalt erörtern;
Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
Kann kürzen diese fein beredten Tage,
Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden
Und feind den eitlen Freuden dieser Tage.
Anschläge macht' ich, schlimme Einleitungen,
Durch trunkne Weissagungen, Schriften, Träume,
Um meinen Bruder Clarence und den König
In Todfeindschaft einander zu verhetzen.
Und in den folgenden Szenen passiert es mindestens zweimal, daß Richard einem
anderen etwas vorsäuselt und dann beiseite spricht, wobei er dem Publikum seine
wahren (bösen, versteht sich) Absichten verrät.
Mir ist natürlich klar, daß das Londoner Theaterpublikum zu Shakespeares Zeiten
noch vor dem Betreten des Theaters wußte, daß Richard ein Bösewicht ist.
Richards Tod lag damals nur etwas mehr als hundert Jahre zurück und diese
hundert Jahre hat die Tudor-Propaganda fleißig benutzt, die Legende vom Bösen
König Richard zu erfinden und auszugestalten. So gesehen wäre der
Eingangsmonolog nur ein historischer Nachhilfeunterricht für die groundlings
auf den billigen Plätzen gewesen.
Aber auch dann bleibt der merkwürdige Umstand, daß der Titelheld Richard von
Gloucester als Figur nicht allmählich entwickelt wird und sich nach und nach
als Bösewicht darstellt, sondern mit einem Donnerschlag auftritt.
Na ja, "Donnerschlag", wohl eher Pritschenklatschen:
"Also, liebe Kinder, ich bin das Böse Krokodil und ich will jetzt dem Kasperl
und seiner lieben Großmutter auflauern, damit ich sie beide fressen kann."
Ich hatte diese Überlegungen vor einiger Zeit schon mal im Usenet zur
Debatte gestellt und dabei - erwartungsgemäß - Widerspruch geerntet.
Einer meinte, Richard sage "ja zu Beginn noch nicht, wie
er böse
sein" wolle, das sei dann "der Inhalt der 5 Akte".
Ich antwortete ihm, daß mich das nicht weiter gewundert und schon gar
nicht gestört hätte. Dieses Brecht'sche "Nicht Spannung auf den Ausgang,
sondern Spannung auf den Gang" hat Shakespeare andernorts schon mal
vorweggenommen, 300 Jahre vor Brecht.
"And never was a story of more woe, than that of Juliet and her Romeo"
heißt es in einer Art Vorspiel.
Im "Richard III." ist das aber nochmal was anderes. Der Held tritt
nicht augenzwinkernd auf und verrät dem Publikum die Story (die das Publikum
damals ohnehin kannte, besser als die meisten Menschen heute), sondern er
charakterisiert sich selbst, am Anfang, noch ehe etwas passiert ist. Eine (mit
Einschränkungen) vergleichbare Selbstanalyse des Helden findet man in Brechts
"Leben des Galilei", aber da kommt sie am Schluß, nachdem die
Story erzählt worden ist.
Mir ist klar, daß "Richard III." kein Whodunnit-Krimi ist, bei dem
sich Publikum und Hauptpersonen fragen, wer wohl hinter den mysteriösen
Todesfällen im Umkreis des Königshauses stecke. Selbst wenn man den
Eingangsmonolog um die Selbstbezichtigung Richards kürzen würde, würde schnell
klar, wie der Hase läuft.
Ein anderer meinte, man sage, daß der Erste, der "Liebe" auf
"Triebe" gereimt habe, ein Genie gewesen sei, die tausende Nachahmer
dagegen lauter Idioten. Vielleicht sei Shakespeare eben nur der erste gewesen,
der den Täter gleich zu Beginn vorgestellt habe.
Ich stellte die Frage, ob es denn Nachahmer gegeben habe, die diesen Kunstgriff
übernommen hätten und ich meinte damit nicht "Kasperl und das
verschwundene Marmeladenglas". Welches Stück gibt es noch, in dem die
Hauptperson am Anfang auf die Bühne tritt und spricht: "Also Leute, ich
bin der Erwin, ich bin eine gottverdammte Drecksau, weil ich eine schwere
Kindheit hatte und überdies einen Buckel. Schwamm drüber, jedenfalls bin ich
eine Drecksau und jetzt schaumermal was für Schweinereien ich noch verüben
kann."
Ein Dritter legte mir einen Link ans Herz, bei dem ich aus dem Gespräch von
Truffaut mit Hitchcock ("Wie haben Sie das gemacht, Mr. Hitchcock?")
lernen könnte, warum Autoren mitunter so schwatzhaft seien, wenn sie das
Publikum in Spannung versetzen wollen.
Die Empfehlung brachte mich nicht weiter, es ging in dem Auszug um die
Spannung, die aus dem Wissen des Publikums und dem Nicht-Wissen der Akteure
entsteht. Im "Richard III." aber ist so eine Spannung gar nicht da.
Keine der Hauptpersonen macht sich - und das von Anfang an - irgendwelche
Illusionen über die Gefährlichkeit und Skrupellosigkeit von Richard, selbst die
Komplicen Richards wissen, daß sie mit einer hochgefährlichen Giftschlange
arbeiten. Ich sehe da sehr wenig Spannung, es werden keine Erwartungen
enttäuscht, niemand wundert sich, niemand ist desillusioniert. Die
Hauptpersonen des Stücks wissen genau so klar wie das Publikum, was für ein
Schurke Richard ist.
Lady Anne bespeit Richard, er beschwatzt sie, sie lenkt am Schluß des Dialoges,
wenn auch halbherzig, ein. (Warum eigentlich? Die Schönheit Richards - bei
dessen Anblick die Hunde heulen, wenn er nur vorübergeht - kann es nicht sein.)
Als sie wieder auftritt ist sie bereits mit Richard verheiratet und eine
verängstigte, eingeschüchterte Frau. Kein Hinweis im Text, warum sie sich
entschlossen hat, ihn nun doch zu heiraten.
Der naheliegende Einwand (der auch tatsächlich kam), man habe damals "in
diesen Kreisen nach reinem Machtkalkül" geheiratet, "wenn man nicht
gar das kleinere von zwei Übeln" gewählt habe, und sei es das nackte Leben
zu retten, sticht nicht recht. Wie alle Hauptpersonen des Dramas weiß auch Lady
Anne, daß der gefährlichste Platz im Königreich England die Nähe Richards ist.
Noch nicht einmal das Ende Richards baut irgendeine Spannung auf, kein
retardierendes Moment, alles läuft geradlinig auf seine Vernichtung zu.
Macbeth, ein anderer Schurke Shakespeares, kann sich noch eine Weile in
Sicherheit wiegen, denn nach der Weissagung werde er nur sterben, wenn der Wald
von Birnam auf sein Schloß zurücken werde, er könne überdies nur von einem
getötet werden, der nicht von einer Frau geboren worden sei.
Bei Richard dagegen... Gleich am Anfang verfluchen ihn eine Menge Leute (siehe
den fast schon komödiantische Wettstreit der Frauen darüber, welche von ihnen
unter Richard am meisten gelitten habe: Ich habe viel gelitten - Und ich noch
mehr - Aber ich, ätsch, hab am meisten gelitten). Im Laufe des Stückes werden
die Flucher mehr und vor der Schlacht treten dann die Geister der Erschlagenen
auf. Sie gehen zu Richard und nennen ihn Drecksau, schlappen rüber zu Richmond
(dem späteren Heinrich VII.) ins feindliche Lager und muntern ihn auf:
"Würg ihn, Heinrich, mach ihn alle."
Einem Anfänger, der so ein Stück bei einem Theater einreichen würde, bekäme
sein Manuskript vom Dramaturgen um die Ohren gehaut.
Versteh ich wieder mal ganz einfach nicht, was los ist oder ist das Drama
wirklich so schlicht gestrickt? Oder konkreter: Ist dieser Ausflug von
Shakespeare ins Kasperltheater ein dermaßen raffinierter dramaturgischer
Schachzug, daß er über mein Begriffsvermögen geht - oder nicht. Und wenn er so
raffiniert ist, warum ist er das? Was geht hier vor?
Oder ist es einfach so, daß "Richard III." eine Folge brillanter und
äußerst bühnenwirksamer Szenen ist, mitnichten aber ein Theaterstück?