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Von der Weisheit des Mythos

und der Demut des Theaters

Anmerkungen zu Ödipus

Wenn Gerüchte alt werden, werden sie Mythos.

Stanislaw Jerzy Lec

Die Geschichte vom König Ödipus, der versehentlich seinen Vater erschlug und ahnungslos mit sei­ner Mutter Kinder zeugte, wird um 800 v. Chr. von Homer als bereits allgemein bekannt er­wähnt. Gut abgehangen, wie die Story also schon in der klassischen Antike war, hat die Ödi­pus-Geschichte bereits damals mehrere dramatische Bearbeitungen erfahren. Die Ödipusdramen von Äischylos und Euripides sind verloren, erhalten geblieben ist uns der Oidipous Tyrannos von Sophokles, der die Geschichte als konkurrenzloser Monopolist für alle späteren Zeiten festgeklopft hat. In seiner Version hat der Mythos die Nacherzähler und Interpreten erreicht, von Seneca über Voltaire bis zu André Gide.

Die Ödipus-Geschichte, der Tragödienstoff aller Tragödienstoffe, wurde zu einer der fun­da­men­ta­len Mythen des Abendlandes. Allgemein gültige Wahrheiten und Einsichten über den Men­schen und sein Leben in dieser Welt werden darin formuliert und dargestellt. Der Ödipus-My­thos ist heute lebendig wie je. Spätestens Sigmund Freud hat ihm mit seinem Ödipus-Komplex ei­ne grandiose Renaissance verschafft.

Es ist also nur konsequent, daß der „König Ödipus“ von Sophokles immer noch zu den viel ge­spiel­ten Stücken der Theater gehört, von hochmodernen Inszenierungen bis zur alljährlichen mu­sealen Weiheaufführung im antiken Amphitheater von Delphi.

Zur Erinnerung: Die Geschichte

Jeder kennt den Mythos, die Wenigsten werden aber alle wichtigen Einzelheiten der Geschichte pa­rat haben:

Die Ehe von Laios, König von Theben, mit Iokaste bleibt kinderlos, eine Katastrophe für ei­nen Monarchen, der eine Dynastie fortführen muß. Das um die Gründe für seine Kin­der­lo­sig­keit befragte Orakel von Delphi hält Laios vor, er habe sich einst an einem Knaben ver­gan­gen und dadurch den Zorn der Götter entfacht. Laios würde von seinem eigenen Sohn er­schlagen werden, sollte er je einen solchen zeugen. Trotz der Drohung schläft Laios Io­ka­ste weiterhin bei; diesmal wird Iokaste schwanger und gebiert einen Sohn. Um dem an­ge­drohten Schicksal zu entgehen, übergibt Iokaste ihr Neugeborenes einem Hirten, damit er es in der Wildnis aussetze. Der Hirte gibt den Säugling jedoch einem auswärtigen Kol­le­gen, der ihn seinerseits an das kinderlose Königspaar Polybos und Merope von Korinth we­iterreicht.

Erwachsen geworden, hört Ödipus Gerüchte, er sei gar nicht der leibliche Sohn des Kö­nigs­paars, sondern ein angenommenes Findelkind. Die Eltern vermögen seine Zweifel nicht zu zerstreuen, so daß auch Ödipus nach Delphi reist. Auf die konkrete Frage nach seiner Her­kunft erhält er keine Antwort, stattdessen die beunruhigenden Auskunft, es sei ihm be­stimmt, seinen Vater zu töten und mit seiner Mutter Kinder zu zeugen. Um das zu ver­mei­den, kehrt Ödipus nicht nach Korinth zurück. An einer engen Wegstelle im Gebirge kommt es zum Streit zwischen Ödipus einerseits und Laios und Gefolge andererseits. Ödipus schlägt alle tot, bis auf einen Knecht, der entkommen kann.

Ein schreckliches Monster, die Sphinx, hält Ödipus auf, der aber ihr Rätsel löst, worauf die Sphinx in den Abgrund stürzt. In Theben feiert man Ödipus als Retter, man gibt ihm die Kö­nigswitwe Iokaste zur Frau und macht ihn damit zum König.

Ei­nige Jahre später - Ödipus hat mit Iokaste inzwischen vier Kinder - leidet Theben unter der Pest. Das delphische Orakel sagt, die Pest werde erst dann weichen, wenn der Mörder von König Laios bestraft und aus der Stadt entfernt sei. Ödipus klärt binnen weniger Stun­den den Mordfall Laios auf, wobei er sich selber als Mörder seines Vaters und Ehemann sei­ner Mutter enttarnt. Iokaste erträgt die Schande nicht, vom eigenen Sohn beschlafen und Kin­der empfangen zu haben: Sie tötet sich selbst, Ödipus blendet sich und verläßt Theben als schuldgepeinigter Büßer.

Ödipus ist nicht ödipal

Seit Sigmund Freud haben wir uns angewöhnt, eine Geschichte nach dem Muster

Sohn haßt Vater und begehrt Mutter

eine „ödipale Geschichte“ zu nennen.

Der heranwachsende Sohn sieht den Vater als Rivalen an, den er - meist unbewußt - haßt.

*        Er haßt ihn als überlegenen sozialen Rivalen, der all das schon erreicht hat, was der junge Mann noch erreichen muß, um seinen Platz im Leben zu finden.

*        Er haßt ihn vor allem aber als sexuellen Rivalen um die Gunst der Mutter, der ersten und wich­tigsten Frau im Leben eines Mannes.

Wenn wir diese Beschreibung einer ödipalen Situation wie eine Folie über den Mythos von Ödi­pus legen, merken wir schnell, daß die Ödipus-Geschichte alles mögliche ist, nur eben kei­ne ödipale Geschichte. Es ist nicht die Geschichte eines Sohnes, der seinen Vater haßt und sei­ne Mutter begehrt.

Seinen Vater Laios kann Ödipus gar nicht hassen, da er ihn nicht kennt. Er haßt ihn nicht ein­mal symbolisch, als jemand, der ihn früh verlassen hat, da Ödipus von diesem Teil der Ge­schich­te die längste Zeit nichts ahnt. Seine Mutter Iokaste begehrt Ödipus nicht, da er sie die ge­samte Kindheit und Jugend über gar nicht und später nicht als Mutter kennt. Ödipus hält viel­mehr bis zum Ende des sophokleischen Dramas Polybos und Merope für seine Eltern. Hätte er Polybos erschlagen und mit Merope geschlafen, dann wäre die Ödipus-Geschichte auch ei­ne ödipale.

*        Ödipus verliebt sich nicht in seine biologische Mutter, um sie dann zu heiraten. Ödipus be­freit eine ihm fremde und gleichgültige Stadt von einer schweren Bedrohung und be­kommt als Lohn fürs Drachentöten die jüngst verwitwete Königin zur Gemahlin - eine ihm bis dahin fremde und gleichgültige, da unbekannte Frau.

*        Ödipus tötet seinen biologischen Erzeuger Laios, das ist richtig. Aber er tötet ihn nicht als den verhaßten Vater, sondern als einen beliebigen Fremden im Verlaufe eines Streits.

Laios, der Täter

Laios!

Dieser Laios wird in der Ödipus-Rezeption - sei es die philologische, die psychologische oder die theatralische - verdächtig weit in den Hintergrund geschoben. Wenn von ihm überhaupt die Re­de ist, dann als bedauernswertes Mordopfer seines eigenen Sohnes. (Aber was heißt schon Mord in diesem Falle? Nach dem heutigen Rechtsverständnis wäre die Tötung von La­ios im Verlaufe eines Kampfes allenfalls als Totschlag, wahrscheinlich aber nur als Körperverletzung mit To­des­folge oder gar als bloße(r) Notwehr(exzeß) einzustufen. Schließlich hatte sich der Wanderer Ödipus im Ver­laufe des erbitterten Streites mehrerer Kontrahenten zu erwehren, die ihn, im Falle, sie hätten gesiegt, si­cher­lich getötet hätten, den Bräuchen ihrer Zeit folgend.)

Eine rühmliche Aus­nah­me bildet die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller. Miller beklagt, alle Welt rede von Ödi­pus und seiner Schuld oder Nichtschuld oder schuldlosen Schuld, während kaum einer mehr als einen flüchtigen Gedanken an Laios, den eigentlichen Urheber der Tragödie, den Haupt­­täter verschwende.

Wer sich auf diese Sichtweise von Alice Miller einläßt und den Ödipus-Mythos von Laios aus­ge­hend betrachtet, dem kippt auf einmal die vertraute Geschichte. Sie verwandelt sich ihm in ei­ne andere und er wird danach nie mehr die alte Geschichte im Ödipus-Mythos finden können.

Das ist ja gar nicht die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater tötet, seine Mutter zur Frau nimmt und mit ihr Kinder zeugt. Der Ödipus-Mythos ist vielmehr die Geschichte eines Mannes, der einem Mordanschlag entgeht, Jahre später seinen Mörder tötet und die Komplicin des Mör­ders in den Selbstmord treibt.

Das in die deutsche Sprache eingegangene jiddische Wort Chuzpe läßt sich mit „Frechheit, Drei­stigkeit“ so einigermaßen übersetzen, wobei allerdings selbst das Wort Dreistigkeit noch viel zu schwach ist. Was Chuzpe wirklich ist, erklären Anekdotenerzähler gerne durch die Ge­schich­te von dem jugendlichen Elternmörder, der in seinem Schlußwort vor Gericht um mil­dern­de Umstände bittet, unter Hinweis auf seinen Status als Vollwaise. Den Kindermörder La­ios als Mordopfer zu bedauern, wie es die abendländische Geistesgeschichte seit der Antike macht - das macht der Chuzpe des Elternmörders ernsthafte Konkurrenz.

Seine Rache vollzieht Ödipus zwar nicht bewußt, aber er vollzieht sie. Und: Er vollzieht sie. Das Opfer vernichtet am Ende beide Täter. Eine Geschichte mit ausgleichender Gerechtigkeit, so befriedigend schön, daß sie im wirklichen Leben nur selten passiert. Eine wunderbare, ver­söhn­liche Geschichte.

Und in der Tat ist bei Sophokles (und das meint im Folgenden immer auch: in jener Version des Mythos, die für die folgenden Jahrtausende qua­si das Monopol erlangt hat) nicht der schicksalhafte Verlauf der Geschichte tragisch, son­dern die Reaktion der Beteiligten auf die Enthüllung der wahren Zusammenhänge. Nicht das Schick­sal schlägt am Ende den König Ödipus, sondern er sich. Er selbst inszeniert das tragische En­de des Stücks, weil er eine Ideologie in sich trägt, die ihn seine eigene Geschichte als Tra­gö­die sehen läßt.

*        Der Ödipus-Geschichte zwischen Laios und Ödipus fehlt im Grunde der Ansatz zur Tra­gödie.

Die Sache mit der Mutter

Wenn da bloß nicht noch die Sache mit der Mutter wäre.

Machen wir uns nichts vor: Die „Sache mit der Mutter“ ist der springende Punkt an der ganzen Ödi­pus-Affäre und dem Aufsehen, das sie über die Jahrhunderte hinweg erregt hat. Die Story vom Vatermörder aus Versehen hätte in der europäischen Geistesgeschichte keine nen­nens­wer­ten Wellen geschlagen, wenn der junge Mann anschließend seine Finger von der Mama ge­las­sen hätte.

Angesichts hunderter und aberhunderter Söhne und Väter aus allen Herrscherhäusern Europas, die im Laufe der Geschichte von ihren jeweiligen Vätern oder Söhnen ermordet wurden - und zwar bewußt getötet und gewollt ermordet - wäre eine versehentliche Vatertötung allenfalls als Kuriosität am Rande registriert worden.

Ma la Mamma...

Es war Ödipussens Mutter, welche die Phantasie der Leser und Zuhörer erregte. Erst die nach dem „Mord“ an Laios erfolgte inzestuöse Beziehung zwischen Mutter und Sohn hat Horden von Groß- und Kleindenkern dazu gebracht, mit erigiertem Gänsekiel in feuchtoffenen Tintenfässern zu stochern.

Die Eltern von Ödipus

Mutter? Sagte ich „Mutter“? Was heißt „Mutter“? Und was „Vater“?

Im fortpflanzungsbiologischen Sinne ist meine „Mutter“ jene Frau, die mich ausgetragen und ge­bo­ren hat, und „Vater“ nennt man jenen Mann, der sein Sperma in besagte Mutter versenkt hat. Im entwicklungs– und sozialpsychologischen Sinn hingegen sind „Mutter“ und „Vater“ jene Per­sonen, die mich großgezogen haben, die sich also nach meiner Geburt wie Vater und Mutter zu mir verhalten haben. Im Normalfall ist eine solche begriffliche Trennung ohne praktischen Wert, denn beide Begriffe treffen in der Regel auf die gleichen Personen zu.

Wenn aber nicht, was dann?

Zur Beantwortung dieser Frage braucht man die Erkenntnisse der Psychoanalyse nicht zu be­mü­hen. Seit Konrad Lorenz in den dreißiger Jahren der Entenmutter ihre Mutterrolle alleine da­durch abgeluchst hat, daß er vor den frisch geschlüpften Entlein wie eine Entenmutter ein­her­ge­stapft ist, wissen wir, wie begrenzt die Bedeutung der biologischen Elternschaft auch bei schon ver­gleichsweise hoch entwickelten Tiergattungen ist - zum Kuckuck aber auch. So gesehen sind Ödi­pus’ Eltern - seine wirklichen Eltern - Merope und Polybos. Sie nehmen Ödipus als ihren Sohn an. Sie benehmen sich ihm gegenüber so, als wäre er ihr Sohn. Sie sind ängstlich bemüht, vor ihm die Tatsache der Adoption zu verheimlichen, um weder ihre persönliche Beziehung zu­ein­ander zu gefährden, noch den Anspruch von Ödipus auf den Thron von Korinth.

Im Gegensatz zu diesen beiden, die ihre Elternrolle mit sehr viel Aufwand spielen, tauchen La­ios und Iokaste im Ödipus-Mythos lediglich als biologische Maschinen auf, die Ödipus - ver­se­hent­lich! - erzeugt haben, um ihr Mißgeschick dann schnellstmöglich wieder zu vernichten. Der Plan des Kindesmordes mißlingt wegen des Ungehorsams des Hirten - und nur deswegen.

*        Es ist ein frivoler, biologistischer Mißbrauch der Begriffe „Vater“ und „Mutter“, La­ios und Iokaste als Eltern von Ödipus zu bezeichnen.

Mord ist nicht gleich Mord

Wer sich dazu entschließt, den „König Ödipus“ von Sophokles nicht kniend zu lesen, als Ehr­furcht heischenden Mythos in der dramatischen Bearbeitung durch einen klassischen Groß­mei­ster, sondern einfach als Theatertext, den springen bei der Lektüre mehrere Merkwürdigkeiten, nein: Ungeheuerlichkeiten regelrecht an.

Da ist zum einen der Umstand, daß sämtliche beteiligten Personen, Ödipus eingeschlossen, ei­ner­seits ein Riesengeschiß um die Tötung des Vaters machen, ein fast noch größeres um den In­zest zwischen Sohn und Mutter, andererseits jedoch den (versuchten) Kindesmord der Eltern als die selbstverständlichste Sache der Welt ansehen. Laios tötet den Säugling nicht eigenhändig, son­dern gibt ohne jede Heimlichtuerei einem anderen den Befehl dazu. Er übt ganz einfach sein gu­tes Recht als König und Vater aus. Jahre später spricht Iokaste im Zuge der Aufklärung der al­ten Geschichte ganz unbefangen und vor allen Leuten davon, daß sie und Laios ihren ge­mein­sa­men Sohn ausgesetzt hätten, damit er umkomme.

Dieser Auffassung seiner sämtlichen Hauptpersonen schließt sich der Große Sophokles an! Der Kin­desmord von Laios & Iokaste wird von ihm nicht einmal ansatzweise problematisiert. An kei­ner Stelle des Stücktextes läßt eine der handelnden Personen auch nur in einem Nebensatz ein Fünkchen von Kritik/Selbstkritik aufscheinen.

Der mitleidlose Ödipus

Mehr als nur merkwürdig ist auch die Reaktion von Ödipus auf die Nachricht vom Tode von Po­lybos. Der bedrängte König nimmt diese Nachricht mit einem erleichterten Seufzer auf. Diese Re­ak­tion ist durchaus nachvollziehbar, denn der Tod von Polybos, den er zu diesem Zeitpunkt noch fraglos als einzig in Frage kommenden Vater ansieht, befreit ihn - scheinbar - von der Angst, er könnte seinen Vater erschlagen. Aber: Ödipus ist nur erleichtert, nicht erschüttert und erleichtert. Ödipus, bei Sophokles ein eiskalter Hund, wenn es nicht um seine eigene, kost­ba­re Seele geht, findet kein Wort der Trauer um den alten Vater.

Vor allem aber: Sophokles bewertet dieses Verhalten seiner Hauptperson als absolut normal und richtig. Im Text des Stückes lassen sich keine Anzeichen von Tadel erkennen.

Um es auf den Punkt zu bringen:

*        Als Eltern von Ödipus gelten bei Sophokles ausschließlich die biologischen Re­pro­duk­ti­onsmaschinen Laios und Iokaste.

*        Sie bleiben es auch dann, als sie buchstäblich gewaltsam auf diese Eigenschaft ver­zich­ten wollen.

*        Die wirklichen Eltern von Ödipus, Polybos und Merope, die sich ihm gegenüber wie El­tern verhalten haben und dadurch zu seinen Eltern geworden sind, zählen nicht als sol­che.

*        Täter ist Ödipus, ausschließlich Ödipus.

*        Ödipus tötet (wenn auch unwissentlich) seinen „Vater“, er nimmt (wenn auch unwis­sentlich) seine „Mutter“ zur Frau. Er macht sich dadurch schuldig, er lädt damit so ziemlich die gräßlichste Art von Schuld auf sich, die der Mythos kennt.

*        Daß logischerweise auch Laios seinen „Sohn“ (wenn auch unwissentlich) ein zweites Mal töten wollte - nämlich bei jenem Streit im Gebirge - wird niemals problematisiert oder auch nur angesprochen.

*        Daß nicht minder logischerweise auch Iokaste ihren Sohn (wenn auch unwissentlich) zum Mann genommen hat, also aktiv gehandelt hat, wird niemals problematisiert oder auch nur angesprochen.

*        Ödipus blendet sich wegen der Schuld, die er begangen hat.

*        Iokaste dagegen tötet sich wegen der Schande, die sie durch Ödipus erlitten hat. (In wildem Jammer stürzte sie herein/.../Und rief zum längst verstorbnen Laios,/Wie ihn der alten Ehe Sproß erschlug/Und wie er sie dem Sohne hinterließ/Als greuelvoller Brut Gebärerin,/ (Sophokles: "König Ödipus", Schlußszene, V. 1241, V. 1245-1248)

*        Laios und Iokaste haben sich keines Verbrechens schuldig gemacht.

*        Vorsätzlicher Kindesmord ist selbstverständliches Elternrecht/Königsrecht.

*        Versehentliche Tötung des Vaters dagegen ist ein hochsanktioniertes Verbrechen.

Kurz:

*        Der „König Ödipus“ von Sophokles transportiert eine barbarische, men­schenver­achtende Ideologie.

Andere Zeiten - andere Ethik

Bei aller moralischen Empörung sollte man aber fair bleiben und versuchen, den handelnden Personen und ihrem Dramatiker gerecht zu werden, die Geschichte von Ödipus also aus ihrem historischen Hintergrund heraus zu verstehen. Ich kann weder Ödipus, Laios und Iokaste einer­seits noch Sophokles andererseits eine Sicht auf die Dinge abverlangen, die sie als Kinder ihrer Zeit gar nicht haben konnten. Ich kann sie nicht an ethischen Forderungen messen, die zwar heute selbstverständlich scheinen, ihren Zeitgenossen jedoch für nichts galten. Die Menschen des archaischen und des klassischen Griechenland dachten anders, weil sie anders lebten. Man­ches war damals selbstverständlich, was uns heute unerträglich, barbarisch, entsetzlich anmutet.

Um, in der archaischen Welt leben, überleben zu können, war es offensichtlich notwendig, so zu denken und zu handeln, wie Laios/Ödipus. Für die archaische Gesellschaft ist das Verhalten von Laios/Ödipus, ihre Einstellung zu Tötung, Abstammung und Herkommen sinnvoll und richtig, oder wertneutraler gesagt: angepaßt.

Edel ist der Adel

Es war eine Zeit, in der nicht mehr jeder alles machte, eine Welt, in der sich Spezialisten für die verschiedenen Tätigkeiten herausbildeten. Jene Stammesangehörigen, die am stärksten, brutal­sten, hinterhältigsten - sprich: siegreichsten - waren, schlossen sich zu einer Kriegerkaste zu­sammen, die sich und ihre Eigenschaften edel, edelig, adelig nannte. Diese Berufskrieger be­herrschten den Stamm, einschließlich der besiegten anderen Stämme, denn alle Macht kommt von der Klinge des Schwertes. Jener wiederum aus dieser Gruppe, der sich als der stärkste, brutalste, hinterhältigste - also: edelste, edeligste, adeligste - von allen erwiesen hatte, be­herrschte den herrschenden Adel und nannte sich König (oder Häuptling oder Fürst oder wie immer).

Damit die Herrschaft auch nach dem Tode des Königs in seiner Familie blieb, bestimmte der König seinen ältesten (überlebenden) Sohn zum Nachfolger. Um auf Dauer König, und also Chef einer brandgefährlichen, vor nichts zurückschreckenden Machtelite zu bleiben, mußte der Thronfolger (und nicht nur er, sondern auch die anderen Söhne, die quasi als Reserve bereit stehen, wenn dem Thronfolger etwas zustößt) mindestens genauso stark, brutal und hinterhältig sein wie der alte König, sein Vater. Damit er dies wurde, war es unumgänglich, ihn von Kindesbeinen an in den edlen Tu­genden des Adels, also Stärke, Brutalität und Hinterhältigkeit zu schulen.

Dadurch sicherte der König seiner Familie das Königtum über den eigenen Tod hinaus.

Gefährliche Familie

Dadurch geriet der König aber auch in ein verfluchtes Dilemma. Ein berufsbedingt ultramieser Stinkstiefel muß berufsbedingt im eigenen Hause eine Brut ultramieser Stinkstiefel heranzie­hen, damit einer von ihnen dereinst sein würdiger Nachfolger werde. Die Söhne des Königs sind Leute, denen man von klein auf beigebracht hat, jeden umzulegen, der ihnen im Wege steht.

Diese Schulung des eigenen Nachwuchses in den Tugenden des Adels ist für den König eine Investition in die Zukunft seiner Gene über den individuellen Tod hinaus. Solange er lebt, ist aber noch er König und muß vor dieser Horde machtgieriger und vor nichts zurückschreckender Söhne eine Heidenangst haben.

Scheißspiel!

Dieses Scheißspiel erklärt die existentielle, weil hochbegründete Angst des Laios vor der Tö­tung durch seinen eben geborenen Sohn.

Nun sind Morde innerhalb einer Familie auch heute nicht so selten, wie es sich der biedere Menschenfreund vorstellt. Bei der überwiegenden Mehrzahl aller Tötungsdelikte besteht (laut der Kriminalstatistik unserer Tage!) eine enge verwandtschaftliche Beziehung zwischen Täter und Opfer.

Der moderne Psychologe aber sagt dir, daß in deiner Familie bei der Entwicklung der persönli­chen Beziehungen verdammt viel schief gelaufen sein muß, bis es soweit kommt, daß dich der eigene Sohn irgendwann erschlägt. In den guten, alten Zeiten jedoch war - zumindest bei Kö­nigs - der Vater–/Sohn–/Bruder–Mord die Folge einer geglückten Erziehung.

Viehzuchtlogik

Hatte der erste König einer Dynastie seine Herrschaft noch durch Gewalt und Tücke erlangt, so gründen seine Nachfolger den Anspruch auf den Thron auf ihre Abstammung vom Dynastiegründer.

Nur wenn ich nachweislich der älteste (noch lebende) Sohn des letzten Königs bin, komme ich für die legitime Thronfolge in Frage. Ich bin des Thrones würdig, weil ich die Erbanlagen des alten Königs in mir trage, weil ich vom selben "edlen Geblüte" bin wie er. Der Stammbaum ist für den Adeligen so wichtig wie für den Viehzüchter.

Aus dieser Viehzuchtlogik - und nur aus ihr heraus! - wird nun auch verständlich, warum Ödipus so hartnäckig von Laios als seinem Vater, von Iokaste als seiner Mutter spricht.

Vater
Laios
(König)

Mutter

Iokaste

 (Königin)

Sohn

Ödipus

 (Thronfolger)

So lautet der Eintrag im Zuchtbuch, das für einen Adeligen in einer feudalen Gesellschaft lebenswichtig ist. So wie sich für einen Viehzüchter der Wert eines Bullen für die Zucht aus dem Stammbaum herleitet, leitet sich für den Adeligen sein sozialer Rang aus dessen biologischer Abstammung ab. Dabei ist der Adelige Züchter und Zuchtbulle in einer Person.

Ödipus ist, vom königlichen Vater verstoßen, dennoch nicht als beliebiges Menschenkind aufgewachsen. Als Prinz von Korinth hat er die Werte der Adelsgesellschaft von klein auf in sich aufgesogen. Wenn sich der Besitz eines großen Vermögens, die Macht über Tausende von Menschen, mein Selbstbewußtsein und die Wertschätzung der anderen entscheidend aus meiner biologischen Abstammung ableiten, wird mir, als dem Begünstigten solcher Spielregeln der Gedanke, es könnten sich die Begriffe „Vater“ und „Mutter“ anders definieren als durch den biologischen Sachverhalt, nicht mal als Denkmöglichkeit in den Sinn kommen.

Grenzen des Mythos

Mit ausreichenden Kenntnissen über die Lebensbedingungen der Ur– und Frühzeit lassen sich sowohl die Konflikte der alten Mythen und Sagen verstehen als auch die Lösungen, welche die Helden für diese Konflikte finden. Kommt zu den Kenntnissen noch ein tüchtiger Schöpfer Phantasie und Einfühlungsvermögen hinzu, wird man sich auch in die Seelenlage der alten Helden - wenigstens ein Stück weit - hineinversetzen können.

Ehrfürchtig das Haupt vor der tiefen Weisheit des Mythos neigen aber kannst du nicht. Allgemein gültige Wahrheiten und Einsichten über den Menschen und sein Leben in dieser Welt kannst du nur bröckchenweise und nur mit dem feinen Sieb der Skepsis aus dem Mythos herausfiltern.

*        Denn: Die Weisheit des Mythos ist zeitgebunden, sehr zeitgebunden.

Unterschiedliche Zeiten, unterschiedliche Lebensbedingungen schaffen sich ihre je unterschiedlichen Moralen und Ethiken (so verwurzelt ist in der gängigen Philosophie der Glaube an eine, natürliche, die Zeiten überdauernde Moral und Ethik, daß unsere Sprache keinen Plural für diese Begriffe bereithält). Wenn wir mythische Helden wie Achilles, Herkules oder Siegfried bewundern, sollten wir nicht vergessen, daß alle drei, lebten sie heute, mit ihrem feeling, ihrem way of life binnen kurzer Zeit mit der Kriminalpolizei in Konflikt wären.

Die Zeiten, in denen die Mythen entstanden sind, aus denen heraus sie zu verstehen sind, sind untergegangen und mit ihnen deren Ethik und ein Gutteil ihrer Weisheit. Dieselben Eigenschaften, die Achilles und Siegfried in die Heldenlieder gebracht haben, brächten sie heute ohne Umwege ins Gefängnis.

Das Überzeitliche am Mythos ist genau das: selber ein Mythos nämlich. Es ist Narretei, sich in Ehrfurcht vor einer Tradition zu verbeugen, die in höchstem Maße kritikwürdig ist.

Ödipus - eine wahre Tragödie

Genau das aber geschieht, und es geschieht stets aufs Neue, tragischerweise.

Daß die Geschichte von Ödipus von Generation zu Generation weitergegeben wird, daß der „König Ödipus“ von Sophokles immer noch gerne gespielt wird, mitsamt der im Stück propagierten Ethik der Viehzucht und des Kindermordes, ist dabei nicht zu kritisieren. Die Ethik der alten Geschichte paßt zu der alten Zeit, in der sie spielt; sie paßt zu den archaischen Menschen, die diese Geschichte gestalten und erdulden. Es gilt, diese uns fremde Ethik aus der Welt von damals heraus zu verstehen. Das waren schließlich keine Monster, sondern an ihre - uns fremde - Umwelt angepaßte Menschen.

Kritikwürdig ist nicht die Ethik der alten Geschichte, sondern die Kritiklosigkeit, mit der diese ideologische Botschaft des Ödipus-Mythos noch immer als zeitlose Wahrheit verkauft wird. Immer noch wird auf dem Theater der „Fall Ödipus“ in demütiger Verbeugung vor der Tradition als die Tragödie der (schuldlosen) Schuld des Sohnes Ödipus dargestellt. Die Frage nach der Schuld des Vaters Laios, der Mutter Iokaste bleibt außen vor. Die Frage, wer denn Vater, wer Mutter von Ödipus ist und ob sich Ödipus wirklich gewalttätig oder sexuell an ihnen vergriffen hat, wird nicht gestellt.

*        Der Skandal besteht darin, daß die Geschichte von „König Ödipus“ immer noch als Tragödie gesehen wird.

Ödipus im Straßenanzug?

Gesetzt den Fall, es nähme einer die vorstehenden Ausführungen so ernst, wie sie gemeint sind, welche Konsequenzen ergäben sich hieraus für die Bühne? Welche Möglichkeiten stehen einem Theatermenschen offen, der wieder mal die Geschichte von König Ödipus auf die Bühne bringen möchte, diesmal aber die hier zur Diskussion gestellten Überlegungen berücksichtigen will, weil sie ihm einleuchtend erschienen sind? Kann man den „König Ödipus“ so inszenieren, daß die Botschaft der Bühne die Tendenz des Textes korrigiert?

Kein Problem, sagt der Bühnenpraktiker. Schließlich ist zu diesem Zweck vor fast einem Jahrhundert das Regie-Theater erfunden worden, das es erlaubt, Stücke „gegen den Strich“ zu inszenieren, um sie auf diese Weise szenisch neu zu interpretieren. Du steckst Brutus in einen Straßenanzug, verpackst Ophelia in ein Cocktailkleid, läßt die ganze Story im Hamburg von heute spielen und machst dem Publikum auf diese Weise klar, wie aktuell die alte Klamotte noch ist, die es sich gerade anschaut.

Diese alterprobte Methode kann allerdings bei diesem Versuch einer Neuinterpretation nicht funktionieren. Es soll ja gerade die hochaktuelle Botschaft rübergebracht werden, wie zeitgebunden und nicht mehr aktuell die alte Ödipus-Geschichte ist.

Und der Text ist da, um ihn kommt kein Dramaturg herum. Ich kann als Regisseur am Text streichen, sicher, aber ich kann den Text, der Sophokles’ Sicht der Dinge transportiert, nicht wirklich verändern. Denn ich will ja den „König Ödipus“ von Sophokles inszenieren, kein neues, eigenes Stück. Sophokles hat das Recht, daß sein Stück so aufgeführt wird, wie er es geschrieben und gemeint hat.

Macht nichts, denn ich kann einen Schritt weitergehen, das Stück bearbeiten und als „König Ödipus“ von Sophokles in der Bearbeitung von Hans Müller-Möhrenschneider herausbringen. Der Begriff „Bearbeitung“ läßt sich jedoch nicht beliebig ausdehnen, er erlaubt nur einige behutsame Änderungen. Macht Hans Müller-Möhrenschneider mehr als das, ändert er gar die Tendenz des Textes, dann hat er ein neues Stück geschrieben. Brächte er es nicht als „König Ödipus“ von Hans Müller-Möhrenschneider heraus, sondern bliebe hinter dem breiten Rücken des wehrlosen Sophokles versteckt, betröge er sein Publikum.

Wenn ich den Gedanken konsequent zu Ende denke, dann führt mich die Idee einer gegen den Strich gebürsteten Klassikerinszenierung dazu, gleich ein neues Stück zu schreiben.

Ein kühner Gedanke, Hans Müller-Möhrenschneider gegen - immerhin! - Sophokles in den Ring steigen zu lassen.

Ein neues Stück in alter Zeit

Nehmen wir einmal spaßeshalber an, ein Dramaturg hätte die Traute, sich auf diesen spektakulären Wahnsinn einzulassen (und sei es bloß deshalb, weil das Theater immer vom Spektakulären und manchmal auch vom Wahnsinn lebt). Wie könnte, wie müßte ein Ödipus-Stück aussehen, mit dessen Abfassung er Hans Müller-Möhrenschneider oder wen immer beauftragt?

Der neue „König Ödipus“ darf sich natürlich nicht um den tragischen Konflikt der alten Ödipus-Geschichte herumdrücken, will er nicht läppisch werden. Er muß mit vollem Ernst und in aller Schärfe von diesem großen Konflikt ausgehen, ihn dann aber aus der dynastischen Viehzuchtlogik von Antike und Mittelalter herauslösen, um ihn statt dessen vor dem Hintergrund eines modernen Begriffs von Elternschaft aufzulösen.

Daraus folgt zum einen, daß das neue Stück auf gar keinen Fall in der Gegenwart spielen kann. Denn in der Gegenwart liefe die Ödipus-Geschichte gar nicht erst an.

*        Voraussetzung für den Plot ist die selbstverständliche und enge Verbindung zwischen hochpolitischem Machtkampf und intimster Beziehungs- und Familienkiste, wie dies nur in einer (echten) Monarchie möglich ist.

*        Ohne die Orakelsprüche und den tiefen Glauben an sie würde gar nichts passieren. Dabei muß es möglich sein, dieses Vertrauen in das Orakel vor aller Welt zu zeigen.

*        Der Säugling Ödipus muß einem Dritten zur Aussetzung übergeben werden, da es ansonsten nicht zur Vereitelung des Mordes kommen kann. Das setzt eine Umwelt voraus, in welcher diese Kindstötung selbstverständlich akzeptiert wird.

*        Ödipus wird der Gemahl von Iokaste, weil ihm die verwitwete Königin als Siegespreis für seine Vernichtung der Sphinx ins Bett gelegt wird.

Schon Sophokles hat sich davor gehütet, seinen „König Ödipus“ in seiner Gegenwart, dem klassischen Griechenland, spielen zu lassen. Er hat ihn dort gelassen, wo er herkommt, nämlich im archaischen Griechenland des Mythos.

Ein alter Plot, ein neuer Mensch

Aus der gestellten Aufgabe folgt zum anderen, daß der Autor das Stück auf gar keinen Fall mit einem archaischen Ödipus durchspielen kann. Mit einem Ödipus, getrieben von einer archaischen Psychologie, liefe die Geschichte auch bei Hans Müller-Möhrenschneider zwangsläufig wieder so, wie sie bei Sophokles gelaufen ist. Wer mit aller Konsequenz Laios als Vater und Iokaste als Mutter ansieht, wer die versuchte Tötung der eigenen Person durch Vater und Mutter akzeptiert, kann gar nicht anders, als am Ende des Stückes zu verzweifeln, angesichts der eigenen schrecklichen Taten.

Nein, Ödipus muß ein moderner Mensch sein. Ein moderner Mensch, umgeben von archaischen Menschen, in einer durch und durch archaischen Konfliktsituation.

Ich stelle mir das zu schreibende Stück als eine Art psychologisches Experiment vor. Der bekannte tragische Konflikt des Ödipus bliebe in allen wesentlichen Punkten unverändert, inklusive der Details mit Pest und Orakel und dem allmählichen Aufdecken des Durcheinanders. Nur diesmal deckt ein moderner Mensch die Verwicklungen der eigenen Biographie auf. Er bewertet die Ausgangssituation des Mythos ganz anders als der authentische Ödipus.

Der neue Ödipus weigert sich, sein vom Orakel vorgezeichnetes Schicksal anzunehmen, da er dessen Tragik nicht sehen will, von seinem modernen Standpunkt aus auch gar nicht sehen kann. Er ist - verdammt noch mal! - kein Vatermörder, da sein Vater, Polybos, noch lebt. Er ist auch kein Mutterficker, da er seine Mutter, Merope, niemals ungeziemend berührt hat. Der moderne Bühnen-Ödipus ist vom Ergebnis seiner Ermittlungen nicht bis ins Mark erschüttert, sondern vielmehr tief befriedigt von der Erkenntnis, daß es ihm vergönnt war, seinen Mörder eigenhändig zu töten.

*        Entstehen müßte notwendigerweise ein unhistorisches, anachronistisches Stück.

*        Unvermeidlich auch, daß unter diesen Umständen das Stück zur Komödie würde.

 

Jetzt kann ich es ja sagen: Das geforderte Stück gibt es schon. Ein Klick und Sie können es lesen.