Zenon, Achilles und
die Schildkröte
Der vergessene
Denker Costabile Matarazzo
1869 veröffentlichte
der botanisierende Mönch Gregor Mendel einen Aufsatz über
Experimente, bei welchen er die Gesetze der Vererbung entdeckt
hatte. Der Aufsatz des wissenschaftlichen Außenseiters Mendel
blieb 25 lange Jahre lang unbeachtet.
1959 veröffentlichte
der philosophierende Journalist Costabile Matarazzo einen Aufsatz
über seine verblüffenden Überlegungen zum Zenon’schen
Paradox von Achilles und der Schildkröte. Der Aufsatz des
wissenschaftlichen Außenseiters Matarazzo blieb bis heute
unbeachtet.
Um der Wahrheit auf
die Spur zu kommen, hat uns der griechische Philosoph Epimenides
eine erlogene Geschichte überliefert.
Ein Kreter habe einmal zu ihm
gesagt: "Alle Kreter sind Lügner." Epimenides weist nach,
daß diese Aussage eines Kreters über die Kreter in ein
logisches Dilemma führt. Wenn es nämlich stimme,
daß alle Kreter Lügner seien, dann müsse sein
kretischer Gewährsmann selber einer sein, sei dessen Aussage
folglich erlogen. Dann aber seien nicht alle Kreter
Lügner, der kretische Gewährsmann könne also selbst
einer dieser wahrheitsliebenden Kreter sein, was wiederum hieße,
daß seine Aussage stimme, er selber also doch ein
Lügner sei.
Diese kleine Geschichte mit der
sich im Kreise drehenden Schlußfolgerung verfolgt die
abendländische Philosophie seit zweieinhalb Jahrtausenden. So
richtig zufrieden ist man mit den vorgeschlagenen Lösungen bis
heute nicht.
Achilles und die Schildkröte
Die lügnerischen Kreter
sind ein Klacks im Vergleich zu dem Ärger, den ein Kollege des
Epimenides, Zenon von Elea, mit seiner Geschichte von Achilles und
der Schildkröte der Philosophie beschert hat. Sie kennen die
Geschichte natürlich, werden sie aber wahrscheinlich
nicht mehr in allen Einzelheiten parat haben.
Achilles, der große
Krieger, läuft mit einer Schildkröte über - sagen wir
mal - 200 m um die Wette. Da Achilles zehnmal schneller läuft
als die Schildkröte, bekommt diese der Fairness halber einen
Vorsprung von 100 m. Der Gesunde Menschenverstand beharrt darauf, und
ist durch nichts von dieser Überzeugung abzubringen, daß
Achilles die Schildkröte sehr bald eingeholt haben wird und
damit den Wettlauf gewinnt. Und wenn der Gesunde
Menschenverstand soweit reicht, lineare Gleichungen mit
zwei Unbekannten zu lösen, dann wird er bei unseren
Ausgangszahlen errechnen können, daß Achilles die
Schildkröte nach 111,111... m eingeholt haben wird.
In diese
Selbstverständlichkeit bricht Zenon ein und beweist mit
logikscharfem Besteck, daß Achilles die Schildkröte niemals
einholen wird, niemals einholen kann. In dem Moment
nämlich, argumentiert Zenon, da Achilles den Startpunkt der
Schildkröte erreicht hat, ist diese ihrerseits 10 m weiter, also
bei 110 m. Hat Achilles die 110 m erreicht, so ist er immer noch
nicht bei der Schildkröte, denn die ist inzwischen wiederum 1 m
weiter gekrochen, auf 111 m. Ist Achilles bei 111 m, so ist die
Schildkröte bei 111,10 m, und so weiter, und so fort.
Immer dann, wenn Achilles jenen
Punkt erreicht hat, an dem die Schildkröte zuletzt war, ist die
Schildkröte jeweils wieder ein Stück weiter, so daß
Achilles im Laufe des Wettkampfes der Schildkröte zwar sehr, sehr
nahekommen wird, sie aber niemals vollständig erreichen
und - logischerweise - also auch niemals überholen kann.
Denn die Schildkröte bleibt immer um ein winziges -
wenn auch mit jedem Schritte winziger werdendes - Stück vor
Achilles.
Der Vorsprung der
Schildkröte wird, so schlußfolgert Zenon, im Laufe der Zeit
zwar unendlich klein, völlig verschwinden aber wird er
nie. Der schnelle Achilles bleibt also bei allem Strampeln stets
hinter dem gemächlichen Tier.
Dampfplaudereien
Nicht nur Wissenschaftler,
Mathematiker und Philosophen, haben sich im Laufe der Zeit mit dieser
Geschichte befaßt. Anspruchsvollere Zeitschriften für das
allgemeine Publikum greifen im Rahmen von philosophischen
Plaudereien Zenons Rätsel gerne auf, wobei die
konservativeren Blätter es häufig als Beispiel für
die Begrenztheit menschlicher Vernunft benutzen. Aber auch in den
seriöseren Blättern ziehen sich die Autoren gerne mit einigen
allgemeinen Bemerkungen über "Paradoxien" und "Gesunden
Menschenverstand" aus der Affäre. Zenons Paradox sei "nun mal
nicht" (eine beliebte Floskel, wenn das Denken aussetzt)
befriedigend aufzulösen, das habe noch keiner gekonnt, da
könne man nichts machen. Aber immerhin sei es Zenons Verdienst,
durch den Stachel seines Paradoxes die Entwicklung der
Infinitesimalrechnung angeregt zu haben.
Die Wissenschaft geht
gründlicher an die Sache heran. Ein behördlich anerkannter
Philosoph rückt der Sache mathematisch zu Leibe und
verkündet zuversichtlich, Zenons Paradoxie von Achill
und der Schildkröte sei schon lange gelöst. "Achill holt
die Schildkröte nach
111,111... m = 100+10+ m
ein. Der Anschein einer
Paradoxie entsteht dadurch, daß Achill sich auch nach
Zurücklegung beliebig vieler der positiven Strecken 100, 10, 1,
1/10, 1/100,... immer noch hinter der Schildkröte befindet. Aber
die Länge dieser Strecken wird eben immer kleiner und konvergiert
gegen 0."
Da hat er recht, der Philosoph.
Die obige Formel ist so richtig, wie sie allbekannt ist. Kein
Lehrbuch der Infinitesimalrechnung kann es sich verkneifen, einen
Hinweis auf Achilles und seine Schildkröte einzuschieben.
Stolz, den Trick mit der Unendlichkeit endlich kapiert zu haben,
rechnet der Schüler die Gleichung nach, kommt zum richtigen
Ergebnis und findet auf der nächsten Seite seines Lehrbuchs eine
verschämte Anmerkung des Autors, ihm sei das Ganze trotz der
mathematisch sauberen Rechnung immer noch irgendwie unheimlich.
Das Unheimliche an Zenons
Schilderung des Wettlaufs ist nämlich der - jeder
Lebenserfahrung Hohn sprechende - Eindruck von
unglaublicher Mühseligkeit und Anstrengung, mit der Achilles
einen Wegabschnitt nach dem anderen läuft und läuft und dabei
der Schildkröte immer nur näher und näher kommt,
sie aber lange und lange nicht erreicht. Ein Eindruck, der auch mit der
Infinitesimalformel im Kopf nicht verschwindet.
Vom Sein und der Verlegenheit
In meinem Lehrbuch der
Infinitesimalrechnung war zu lesen, daß die "Paradoxie des
Zenon vom mathematischen Standpunkt aus nur so verstanden werden ...(kann)...,
daß Achilles die Schildkröte zwar zu keinem Mal
(niemals) innerhalb der unendlichen Folge einzelner Weg- und
Zeitintervalle einholt, aber sie dennoch nach einer endlichen
Zeitspanne, also nicht ‘nie’, tatsächlich erreicht."
Diese Erklärung ist nun
alles andere als zufriedenstellend. Sie läuft, in Alltagsdeutsch
übersetzt, auf die Feststellung hinaus, daß Achilles
die Schildkröte bestimmt irgendwann, vor dem Ende der
Unendlichkeit, erreicht - aber: das kann dauern. Und: Auch dieser
Schluß stimmt ganz offensichtlich nicht mit der Beobachtung
überein, denn in der Realität wäre das ganze Rennen
eine Sache von Sekunden.
Auch den Lehrbuchautoren ist
klar, daß dies nicht das Gelbe vom Ei ist, denn sie sprechen
anschließend, sichtlich verlegen, von der "kontinuierlichen,
bzw. diskontinuierlichen Struktur von Raum und Zeit", und von
der "Unendlichkeit als potentieller Denkmöglichkeit, bzw.
aktualer Wirklichkeit", flüchten sich also in das
Seins–Gebrabbel des Irgendwie. Und weil ihnen diese Flucht in die
Unverbindlichkeit der Ontologie durchaus bewußt ist fahren sie
fort, die "verschiedenen Deutungsversuche im Laufe der
Geistesgeschichte" hätten "letztlich nur
erkenntnistheoretische Bedeutung, während die reine Mathematik
auch ohne sie" auskomme. "Denn die Mathematik schafft
sich die Welt ihrer Wirklichkeit selbst."
Entnervt erklären sich
also die philosophierende Mathematiker - sicherheitshalber - für
unzuständig und reichen den Schwarzen Peter an die
Philosophie weiter, die es sich aber anscheinend mit der
mathematischen Formel ganz kommod eingerichtet hat.
Alle Welt scheint sich um das
Zenon’sche Paradox von Achilles und der Schildkröte
herumzudrücken. Letztlich versucht man uns einzureden,
als denkender Mensch müsse man sich damit abfinden, daß
logisches Denken zwar wunderbare Gebäude zu erzeugen vermag,
diese Gebäude aber gelegentlich unter einem sanften
Fußtritt einfach zerbröseln.
Paradoxien sind logischer Sprengstoff
Paradoxien oder Antinomien sind
die Hofnarren der Philosophie. Sie nehmen Prämissen,
(inhaltlich) unstreitige Grund–Sätze, von denen jeder
vernünftige Mensch ausgehen kann, ausgehen muß. Dann
greifen sie sich - ebenso unstreitige - (formal–)logische
Verknüpfungsregeln. Der Baukasten ist
komplett: Aus wahren Prämissen und richtigen
Verknüpfungsregeln kann - nein muß! -
jeder vernünftig denkende Mensch zu wahren, d. h. mit der
Realität übereinstimmenden Aussagen kommen. Fein.
Und dann kommt die
Realität aus ihrem Loch gekrochen und hat die Stirn, mit den aus
wahren Prämissen korrekt abgeleiteten Sätzen nicht
übereinzustimmen.
Und das war’s dann?
Darüber kann man mit einem schief–verlegenen Lächeln
hinweggehen?
Man kann es nicht! Solange eine
logische Paradoxie unerklärt im Raum stehen bleibt, kann das nur
dreierlei heißen:
*
Entweder ich bin nicht in der Lage,
richtig zu beobachten, d. h. die scheinbar so evidente
Realität ist gar nicht so, wie sie meinen menschlichen Augen
erscheint.
*
Oder die Prämissen sind Makulatur.
*
Oder - wer wagt es, zu denken? - meine
schöne Logik ist an einer Stelle undicht. So undicht,
daß sie das Wasser der Wahrheit nicht halten kann.
Wie auch immer: Wer denkt, weil
er - abgesehen vom Genuß des Denkens an sich -
irgendwann auch ein Ergebnis mit nachhause nehmen will, der
kann über Zenons Paradox nicht locker hinweghüpfen, den
werden solche Paradoxien beunruhigen bis ins Mark. Denn - machen
wir uns das mal in aller Schärfe klar:
*
Daß Zenons
Beweisführung falsch sein muß, wissen wir.
*
Wir wissen es aber nur
deswegen, weil das Ergebnis der Beweisführung an diesem
einen Beispiel absolut absurd ist.
So falsch - das ist
allen klar - kann unsere Beobachtung gar nicht sein, Achilles wird
zweifellos die Schildkröte überholen.
Solange wir jedoch nicht
wissen, warum Zenons Argumentation falsch ist, bleibt ein
folgenschwerer Stachel im Gehirn. Was, so bleibt zu fragen,
ist in jenen Fällen, in denen die logisch so eindeutig
scheinende Beweisführung ebenfalls falsch ist, das falsche
Ergebnis dieser fehlerhaften Beweisführung aber plausibel
bleibt, der Fehler im Ansatz also nicht eindeutig und evident
ins Auge springt? Können wir uns unter diesen Umständen noch
auf unser wichtigstes Denkinstrument, die Logik, verlassen?
Das Problem, das sich stellt,
ist mit einem Computer vergleichbar, der eigentlich immer
zuverlässig arbeitet, bei einer bestimmten einfachen,
leicht nachzuprüfenden Berechnung aber immer das
falsche Ergebnis errechnet und keiner der Hard– und
Softwarespezialisten kommt darauf, warum diese eine Sache immer falsch
errechnet wird. Wirklich wichtige Berechnungen wird man diesem Computer
nicht anvertrauen können, sondern einen anderen nehmen.
Wir haben aber nur diese eine
und einzige Logik.
Costabile Matarazzo
Elea, in dem Zenon als
Philosoph wirkte, war 500 v. Chr. eine griechische Stadt. Es liegt in
Süditalien, knapp 150 km südlich von Neapel.
Knapp 30 km nördlich von
Elea und zweieinhalb Jahrtausende nach Zenon wurde 1911 in
Castellabate Costabile Matarazzo geboren. Er studierte in Neapel,
später in Rom, Jura, Literaturgeschichte und
Philosophie. In seiner Studentenzeit geriet er mehrmals wegen
kritischer Äußerungen und Zeitungsbeiträge mit den
Behörden des faschistischen Italien in Konflikt, so daß er
schließlich Italien verließ, um sich in Brasilien
niederzulassen.
1946 kehrte er nach Italien
zurück, wo er als Freier Mitarbeiter für die Feuilletons
verschiedener italienischer Zeitungen und Zeitschriften
schrieb. Er schrieb vor allem Theater– und Buchkritiken, versuchte
sich hin und wieder auch als scharfsinniger und einfühlsamer
Gerichtsreporter bei Strafprozessen.
1959 hielt er in Vallo della
Lucania - in Sichtweite des antiken Elea, was wörtlich zu
verstehen ist - einen Vortrag, in welchem er behauptete, das
Zenon'sche Paradox von Achilles und der Schildkröte aufgelöst
zu haben. Der Vortrag wurde unter dem Titel "Achilles, die
Schildkröte und die Zeitlupe - Das Paradox von ZENON im
Lichte der modernen Kinematographie" in der
"Rivista Scientifica Lucana" veröffentlicht.
Wiewohl Matarazzo als
Journalist italienweit einen gewissen Ruf genoß, wurde er als
philosophierender Journalist offensichtlich nicht recht ernst
genommen. Dazu mag beigetragen haben, daß Matarazzo das
schwierige Thema auf eine leicht verständliche, angenehm lesbare
Art und Weise dargestellt hat, ein Umstand, der auch einen
ausgewiesenen Wissenschaftler schnell in den Verdacht bringt, nichts
Substantielles gesagt zu haben.
Tatsache ist, daß weder
Matarazzos Vortrag noch sein Aufsatz in der Folgezeit irgendeine
Beachtung fanden..
1996 ist Costabile Matarazzo in
seinem Heimatort Castellabate gestorben.
Die meisten Dinge sind einfach
Nachdem Matarazzo das Problem
dargestellt, seine Bedeutung herausgestrichen und die Grenzen
der bisherigen Lösungsversuche aufgezeigt hat, kommt er zum Kern.
"Unser Mathematiklehrer, hatte uns, die
wir kurz vor dem Abitur standen, eine Hausaufgabe
gegeben:
Ein
Spaziergänger will von Punkt A zum 5 km weit entfernten Punkt B
gehen. Auf seinem Wanderhut sitzt eine Amsel, bereit, ebenfalls
nach B zu fliegen. Der Spaziergänger geht mit einer
gleichmäßigen Geschwindigkeit von 5 km/h, während die
Amsel mit der zehnfachen Geschwindigkeit fliegt. In dem Moment, da
der Fußgänger zu seiner Wanderung nach B
aufbricht, erhebt sich auch die Amsel von seinem Hut. Wenn die Amsel
bei B angekommen ist, dreht sie sofort um und fliegt zum Wanderer
zurück.
Ist die
Amsel beim Wanderer, der inzwischen seinerseits ein Stück Weg
zurückgelegt hat, angekommen, dreht sie sofort wieder um, fliegt
nach B, dreht dort um, fliegt bis zum - inzwischen noch näher
gekommenen - Spaziergänger usw. usf. - bis schließlich auch
der Wanderer bei B angekommen ist.
Die
Frage lautete nun: Wieviel Kilometer hat die zwischen dem festen Punkt
B und dem ständig sich verändernden Punkt F (gleich
Fußgänger) hin– und herpendelnde Amsel
zurückgelegt?
Vor
Eifer glühend schloß ich mich an diesem Nachmittag in meinem
Zimmer ein, konzentrierte mich darauf,
Bewegungsgleichungen für Fußgänger und Amsel
aufzustellen. Mehrere Stunden lang hatte ich einen winzigen, aber
entscheidenden Fehler im Ansatz, machte dann noch ein, zwei
Rechenfehler und war schließlich - es war bereits weit nach
Mitternacht - zum, wie sich herausstellte, richtigen Ergebnis
gekommen.
Unser
Mathematiklehrer lobte mich am nächsten Tag für meinen
Fleiß und meine Ausdauer, immerhin war ich der einzige
in der Klasse gewesen, der das richtige Ergebnis gefunden
hatte. Dann lächelte er uns an und meinte, es gebe noch einen
anderen Ansatz. Der Fußgänger sei doch eine Stunde
unterwegs? Wir nickten - ganz leicht auszurechnen. Also fliege
logischerweise auch die Amsel eine Stunde. Wir mußten wieder
nicken. Die Amsel erreiche 50 km/h, also müsse sie in
der einen Stunde 50 km zurücklegen.
Damals
ging ich weinend von der Schule nachhause.
Meine
bleibende Erkenntnis aus dieser ebenso bitteren wie prägenden
Erfahrung läßt sich so formulieren:
Die meisten Dinge sind einfach. Sie werden
erst durch schlaue Leute zum Problem.
Zenon und die Zeitlupe
Und dann fährt er fort:
Es wird nun Zeit, sich endlich auf das
Problem selbst zu konzentrieren. Lassen wir das Rennen mehrmals -
unter verschiedenen Blickwinkeln - vor unserem geistigen Auge
ablaufen.
Wie
würde ein unbefangener, philosophisch oder physikalisch nicht
vorgebildeter Beobachter die Szene beschreiben?
·
Beide Sportler laufen los, die
Schildkröte langsam, Achilles erheblich schneller. Bald hat
Achilles die Schildkröte eingeholt, überholt und wird
schließlich überlegener Sieger.
Nun
stellen wir uns einen physikalisch geschulten Beobachter vor und bitten
ihn, den Ablauf des Rennens möglichst präzise
festzuhalten:
·
Achilles ist anfangs bei Punkt 0, die
Schildkröte bei Punkt 100 und beider Ziel ist Punkt 200. Nach
einer gewissen Zeitspanne t ist Achilles bei 50, die Schildkröte
dagegen (sie hat nur ein Zehntels des Weges von Achilles
zurückgelegt) bei 105. Nach der doppelten Zeit 2·t ist
Achilles bei 100, die Schildkröte bei 110. Nach der
dreifachen Zeit 3·t ist Achilles bei 150 und die
Schildkröte bei 115.
Achilles
hat also die Schildkröte bereits überholt. Den Rest des
Beobachtungsprotokolls können wir uns sparen.
Zu
guter Letzt lassen wir Zenon das Rennen beschreiben.
·
Achilles ist anfangs bei Punkt 0, die
Schildkröte bei Punkt 100 und beider Ziel ist Punkt 200. Nach
einer gewissen Zeitspanne t ist Achilles bei 100, die Schildkröte
dagegen bei 110. Nach einer weiteren Zeitspanne 1/10·t
ist Achilles bei 110, die Schildkröte dagegen bei 111.
Nach wiederum einer Zeitspanne 1/100·t ist Achilles bei 111, die
Schildkröte dagegen bei 111,10, zum Zeitpunkt 1/1000·t,
schließlich ist Achilles bei 111,10, die Schildkröte dagegen
bei 111,11 usw. usf.
Achilles
wird die Schildkröte niemals einholen.
Merken
Sie was? Merken Sie den Unterschied? Der normale, physikalisch
geschulte Beobachter benutzt für seine Beschreibung
gleiche Zeitabstände, Zenon dagegen wählt ein
Beobachtungsintervall, das von Meßpunkt zu
Meßpunkt kleiner wird.
Lassen
Sie es mich Ihnen noch etwas anschaulicher darstellen: Stellen Sie sich
vor, das Rennen zwischen Achilles und der Schildkröte
wäre mit einer Filmkamera aufgenommen worden und unsere
Beobachter sehen sich jetzt den Film an.
·
Der naive Beobachter läßt
den Film einfach ablaufen und freut sich dran.
·
Der physikalische Beobachter
läßt den Film an vier - zeitlich gleich weit entfernten -
Stellen anhalten, notiert sich die Zwischenstände und
läßt dann jeweils weiter laufen.
·
Zenon hingegen sieht sich den Film bis
zur Hälfte ganz normal an, schaltet dann den Projektor auf
Zehnfach-Zeitlupe, stellt fest, daß Achilles (bei der Projektion)
für den wesentlich kürzeren Weg nun genauso lange
braucht wie zuvor für den langen, schaltet nun auf
hundertfache Über-Zeitlupe, macht wiederum die gleiche Beobachtung
von Achilles’ Langsamwerden und schaltet dann auf Super-,
schließlich auf Giga-Zeitlupe usw. usf.
Das
heißt: Zenon "beobachtet" in diesem Gedankenexperiment gar nicht, daß Achilles die
Schildkröte niemals einholen wird.
Sondern?
Sondern
er weigert sich einfach, hinzuschauen, solange
hinzuschauen, bis Achilles das Tier eingeholt hat. Indem er die
Beobachtung, nur die Beobachtung, nicht den
tatsächlichen Ablauf ad infinitum zerdehnt, kommt er zu
seinem sensationellen, beunruhigenden Paradox
"Achilles
ist ganz knapp hinter der Schildkröte. So, in der Bewegung
eingefroren, wie die beiden jetzt sind, lassen wir sie stehen und
diskutieren die nächsten zweieinhalb Jahrtausende
darüber, warum Achilles die Schildkröte nicht einholen kann."
Hätte
Zenon die Geschichte auf diese Weise erzählt, hätte er
niemals Generationen von Philosophen und Mathematikern zum Narren
halten können. So aber zwingt er sie mit einem
Taschenspielertrick zu komplexen Infinitesimalgleichungen, wo
Kopfrechnen - ach was!: - Nachdenken genügt hätte."
Soweit Costabile
Matarazzo.
Das Bemerkenswerte an
Matarazzos Aufsatz ist die Tatsache, daß er das philosophische
Problem nicht mathematisch angeht, sondern eben philosophisch.
Matarazzo lenkt die Aufmerksamkeit auf den Umstand, daß
Zenon vorgibt, ein Bewegungsproblem konstruiert zu haben,
während der ganze Ärger lediglich eine Sache der auf den
Sankt Nimmerleinstag verzögerten Beobachtung
ist. Zenon macht die Beobachtungsintervalle so klein und immer
kleiner, daß er faktisch nie dazu kommt, einen Strich zu
ziehen und sein "Jetzt ist’s passiert!" unter das
Beobachtungsprotokoll zu schreiben.
Oder, anders ausgedrückt:
Matarazzo löst das Problem nicht, das seit Newton und Leibniz
jeder Gymnasiast lösen kann, sondern er zerfetzt die
Fragestellung. Zenons Problem braucht keine Lösung, weil das
Problem nicht existiert.
Und wenn ich die Geschichte der
nachmittelalterlichen Mathematik noch richtig im Kopf habe, dann
war es in der Tat nicht der Stachel Zenons, der die
Infinitesimalrechnung aus den Hirnen hervorgekitzelt hat, sondern
Newtons und Leibniz’ Notwendigkeit, die Bewegung der Planeten
mathematisch in den Griff zu bekommen.
Muß ich noch extra
erwähnen, daß Costabile Matarazzo auch das logische Paradox
vom lügenden Kreter mit einem eleganten Schlenker in
wenigen Sätzen erledigt?
"Ein
logischer Teufelskreis", stimmt Matarazzo hinterfotzig zu, "aus dem es kein Entrinnen gibt
- wenn...
Wenn
denn das Wort "Lügner" bedeuten würde, daß jeder
Aussagesatz eines Lügners erlogen wäre. Nun ist
Ihnen klar, daß dem nicht so ist, weil dem nicht so sein kann.
Niemand ist in der Lage, bei allem, was er sagt, die Unwahrheit zu
sprechen (sowenig wie im übrigen der umgekehrte Fall
möglich ist - wir lügen alle ab und zu, und sei es aus
Höflichkeit und Erbarmen). Ein "Lügner" ist vielmehr ein
Mensch, der bedeutend häufiger als der Normalmensch
die Unwahrheit sagt. So gesehen dürfen wir auch dem dreistesten
Lügner glauben, wenn er von sich behauptet, er sei ein
Lügner."
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