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Lesefrüchte

„Eine Bahnfahrt ohne Buch“, sag ich immer, und das aus Erfahrung, „ist wie ein Scheißhaus ohne Klopapier. Es geht schon - aber frage nicht, wie!“

Wo andere Leute - zum Ärger des Fröhlichen Serviceteams Ihrer Bahn - Berge von belegten Broten auf die Reise mitnehmen, harte Eier, Obst und literweise Erfrischungsgetränke, da habe ich einen Stapel Bücher bei mir; einen Vorrat für Verspätungen und andere Notfälle eingeschlossen.

An jenem Morgen, an dem die peinliche Sache mit Fräulein Seiferts T-Shirt passierte, wartete ich auf dem Bahnsteig in Regensburg auf den Interregio nach Dresden. Als die Bahnsteigdurchsage die baldige Einfahrt des Zuges ankündigte, steckte ich das Buch, in dem ich gelesen hatte, ins Jackett und stand auf.

Auf dem Boden sah ich ein durchweichtes und beschmutztes Reklameflugblatt liegen. Irgendwer pries in fetten Buchstaben irgendwas Unentbehrliches zu sagenhaft günstigen Preisen an. Mit der Spitze meines Schuhs versuchte ich, das Blatt umzudrehen, ohne mich schmutzig zu machen. Das Ding widerstand meinen Bemühungen.

Mit den äußersten Fingerspitzen ergriff ich das nasse, dreckige Blatt und las es, während ich auf den inzwischen eingefahrenen Zug zuging. Als ich gelesen hatte, was ich lesen wollte, ließ ich das Blättchen achtlos zu Boden fallen.

„Das heben Sie jetzt aber so - fort wieder auf!“

Erschrocken drehte ich mich um und erblickte den Schaffner, der mit spitzem Finger auf den Boden deutete.

„Was? Wer? Ich?“ stammelte ich irritiert.

„Natürlich Sie“, raunzte der Beamte. „Das Werfen von Abfällen auf den Boden ist im Bahnhofsbereich verboten. Und nach dem Verursacherprinzip...“

„Ich habe aber keine Abfälle auf den...“

„Und was ist das da?“ triumphierte er und deutete auf das Flugblatt.

„Ach das! Das ist nicht von mir.“

„Sooo!“ jodelte der Schaffner ironisch. „Das ist nicht von Ihnen. Ich habe aber mit eigenen Augen gesehen, wie Sie diesen Zettel weggeworfen haben.“

Wenn’s reicht, reicht’s. Und mir reichte es jetzt. „Das ist erstens kein Zettel“, stellte ich klar, „sondern ein Reklameflugblatt. Und zweitens habe ich das Reklameflugblatt nicht weggeworfen, sondern achtlos fallengelassen. Achtlos deshalb, weil mich dieser Zet... dieses Flug... dieser verdammte Zettel nichts - im Wortsinne: nichts! - angeht.“

„Wer im Bahnhofsbereich“, gab der Schaffner gnadenlos zurück, „einen ‘Zettel’ oder was immer ‘achtlos fallenläßt’ oder wie immer, den geht dieser Zettel etwas an.“

Ich seufzte. „Dieser Zettel lag bereits auf dem Boden, dort drüben. Er hatte den Bahnhofsbereich bereits verschmutzt, noch ehe ich diesen Bahnsteig überhaupt betreten habe. Für diesen Zettel bin ich weder urheberrechtlich noch abfalltechnisch verantwortlich.“

„Aber Sie haben ihn gelesen. Weil ich mir noch dachte: Wer liest denn einen völlig verschmutzten...“

Ich, guter Mann, ich. Ich lese so was. Ich lese nämlich leidenschaftlich gerne.“

Dann packte ich meine Reisetasche, wuchtete sie in die offenstehende Tür des Waggons und machte Anstalten, hinterdrein zu steigen.

Drohend griff der Schaffner nach dem Gürtelhalfter und zückte sein Handy. „Sie werden jetzt diesen Zettel in diesen Papierkorb werfen...“

„Ha!“ rief ich trotzig und erstieg die erste Stufe des Treppchens.

„...oder ich werde die Bahnpolizei rufen.“

Ich weiß, wann ich verloren habe. Verächtlich schnaubend stieg ich auf den Bahnsteig zurück, schlenderte gemächlich zum Zettel, hob ihn auf und ließ ihn dann in den Papierkorb fallen.

Ohne diesen Schweinehund von einem Prinzipienreiter eines Blickes zu würdigen, bestieg ich den Zug.

Das Abteil, das ich fand, war leer. Aufseufzend ließ ich mich auf einen Fensterplatz plumpsen und zog mein Buch aus dem Jackett.

Allein! Ruhe!

Immerhin.

Auch das Paradies dauerte nicht ewig. Meines endete in Schwandorf, zwanzig Fahrplanminuten hinter Regensburg.

„Entschuldigung, ist hier noch frei?“ fragte eine junge Frau, nachdem sie in mein Abteil eingedrungen war.

Ich blickte mich um, überlegte eine lange Weile, ehe ich lakonisch mit „Ja!“ antwortete.

Obwohl das Abteil reiche Auswahl an entfernteren Plätzen geboten hätte, setzte sich meine neue Mitreisende auf den zweiten Fensterplatz, mir gegenüber. Eine Weile schien sie aus dem Fenster zu schauen, wohl weil sie dies ihrem Sitzplatz schuldig war.

Dann seufzte sie tief. „Zugfahren kann ganz schön langweilig sein.“

In mein Buch vertieft, grunzte ich, ohne aufzublicken. „Nicht, wenn man was zu lesen dabei hat.“

„Da haben Sie recht“ stimmte sie mir zu. „Wenn.“

Wieder schaute sie aus dem Fenster, ehe sie einen neuen Versuch wagte. „Was lesen Sie da eigentlich Schönes?“

Nun war es an mir, zu seufzen. „Was ich da zu lesen versuche, ist die ‘Kritik der Reinen Vernunft’ von Immanuel Kant.“

„Ach?“ fragte sie erstaunt. „Und was hat dieser Kant gegen die Vernunft?“

„Vergessen Sie’s“, schnitt ich jede mögliche Diskussion über Kant, Erkenntnis und - Gott verhüte! - Hegel ab. „Es war ein Witz.“

Mit einer müden Geste drehte ich das Buch einen Moment lang so, daß mein Gegenüber die Titelseite sehen konnte: „Bete, Johnny!“, verfaßt von einem gewissen Dick Malone. Der kniende Mann auf dem Titelbild, auf dessen Stirn ein Revolver gerichtet war, ließ keinen Zweifel daran, daß es sich hier nicht um theologisches Schrifttum handelte.

Die Frau lachte herzlich. „Köstlich, wirklich. Sie sind ein sehr witziger Mensch.“

Ich nickte artig zu diesem ernst gemeinten Kompliment, um sofort weiterzulesen.

„Ich heiße übrigens Gerda Seifert“, sagte sie lächelnd.

„Ich nicht“, antwortete ich.

Damit war natürlich der Ofen aus. Gottlob!

Vergrätzt wandte sich Fräulein Seifert ab und holte aus ihrem Handtäsch­chen eine Tüte Gummibären. Wütend riß sie die Tüte auf, fischte sich eine Handvoll Bären heraus und kaute das süße Zeug so geräuschvoll, wie Gummibären sich nur immer geräuschvoll essen lassen. Meinem strafenden Blick entzog sich das Luder durch anhaltendes Starren nach draußen.

Bisher hatte ich es bewußt vermieden, die geschwätzige Frau direkt anzublicken, um sie durch Blickkontakt nicht zu weiterer Konversation zu ermuntern. Nun aber, da sie wegsah, schaute ich mir Gerda Seifert erstmals genauer an.

Ich war fasziniert. Nicht von Gerda Seifert. Ihr T-Shirt jedoch zeigte eine aus einem Buch herausgerissene Seite.

Ein Buch. Buchstaben. Lesestoff.

Meine Leidenschaft war erwacht und wurde vollends angefacht durch die fettgedruckte Überschrift: „SCOTCH WHISKY (40 %)“.

Was folgte war nicht ein hirnblöder Werbespruch, sondern ein Auszug aus einem Lexikon. „Der Name ‘Whisky’ leitet sich ab vom gälischen Ausdruck ‘Uisge Beatha’, was soviel wie ‘Wasser des Lebens’ bedeutet.“ Das wußte ich zwar schon, weckte aber den Appetit auf weitere Informationen. Ich ließ meinen Blick über Gerdas Busen schweifen: „Neben der Urform des Whiskys, dem Malt Whiskey, der nur aus gemälzter und im Torfrauch getrockneter Gerste gebrannt wird, sind heute auch Grain Whiskys und Blended Whiskys in unzähligen Erscheinungsformen auf dem Markt vertreten: Während für die Grain Whiskys neben gemälzter Gerste auch Mais und...“

Aus!

Die Antwort auf die brennende Frage nach den weiteren Zutaten stand auf der nächsten Zeile. Diese lag aber außerhalb meines Blickfelds, auf der Unterseite von Gerda Seiferts Busen.

Wer jemals Leidenschaft, wahre, unbändige Leidenschaft in sich verspürt hat, wird verstehen, was ich nun tat und warum. So unauffällig wie möglich versuchte ich, meinen Kopf Winkelgrad für Winkelgrad zur Seite zu neigen, um auch die verborgenen Stellen des Textes ins Blickfeld zu bekommen.

„...ungemälzte Gerste verwendet wird,...“ las ich. Aha, ungemälzte Gerste.

Eine Falte im Stoff verdeckte den Rest der Zeile.

Ich drehte meinen Kopf noch weiter nach unten, ließ meinen Körper auf der Sitzbank nach vorne rutschen, so daß sich mein Kopf schließlich auf der Höhe von Fräulein Seiferts Rippenbogen befand. „...entstehen die Blended Whiskys durch Vermischung...“ verkündete die Unterseite ihres Busens.

Weiter kam ich nicht.

„Das ist doch...“ Vor Empörung konnte Fräulein Seifert nicht mehr weitersprechen. Eine heftige Bewegung brachte die Tüte mit den Gummibären zum Kippen und ließ einen Gutteil des kostbaren Naschwerks über den Sitz rollen.

Sie hatte mich ertappt! Ich ruckte jäh nach oben und setzte mich wieder brav und normal hin. Es nützte nichts mehr.

„Als Frau erlebt man ja so manche Unverschämtheit von euch Männern“, zischte die wütende Frau. „Aber das...“

„Hören Sie“, warf ich ein, „das ist ein Mißverständnis.“

„Mißverständnis!“ Gerda Seifert spuckte mir das Wort verächtlich entgegen. „So gierig wie Sie mir aus nächster Nähe auf die Brüste geglotzt haben - wo bleibt da Platz für Mißverständnisse?“

„So lassen Sie sich doch erklären...“

„Ich lasse mir nichts erklären. Nicht von Ihnen, Sie schamloser Lustmolch, Sie!“

Wütend sprang sie auf, das Abteil zu verlassen, das sie mit mir bis jetzt so arglos geteilt hatte.

Keine Dame von Welt überläßt einem Lustmolch Gummibärchen.

Keine.

Nie.

Mir den Rücken zugedreht, bückte sich Fräulein Seifert, um sorgfältig Bärchen für Bärchen aufzulesen und wieder in der Tüte zu verstauen.

Auch die Rückseite ihres T-Shirts war bedruckt. „BOURBON WHISKEY (40%) las ich. „Der amerikanische Bourbon Whiskey unterscheidet sich nicht nur in der Schreibweise von seinem europäischen Vorfahren, dem (Scotch) Whisky: Während letzterer traditionell aus gemälzter Gerste gebrannt wird, verwendeten die Einwanderer in der Neuen Welt hauptsächlich Roggen und Mais zur Herstellung Ihres ‘Feuerwassers’. Die Bezeichnung ‘Bourbon’ ist auf den Bourbon County zurückzuführen,...“

Jäh drehte sich die Bärensammlerin um. Es muß viel Lust und Entzücken in meinem konzentrierten Blick gelegen haben, denn Fräulein Seifert rastete aus. Sie holte aus und gab mir eine schallende Ohrfeige.

„Da!“ rief sie höhnisch. „Ihr verdammten Tittenglotzer sehnt euch doch so nach Körperkontakt mit einer Frau.“

Das Schöne an eingefangenen Ohrfeigen ist, daß sie dir einen Vorwand liefern, deinerseits grob zu werden.

In kühl kalkulierter Wut sprang ich auf und schrie Gerda Seifert an. „Sie verdammte, arrogante Ziege! Ihre blöden Titten sind mir scheißegal!“

„Ach, nein!“

„Ach, ja! Das einzig Interessante an Ihnen ist der Text auf Ihrem T-Shirt.“

Gerda Seifert schnappte nach Luft. Sie blickte an ihrem T-Shirt herab, dann brannten ihre Sicherungen durch. War die Ohrfeige von vorhin eher symbolisch gewesen, so hatte sich diese gewaschen. Ein Platsch, ein Knall und meine Wange brannte rot.

Angelockt durch das Geschrei, erschien der Schaffner in der Abteiltür.

„Er“, rief Gerda und deutete mit dem Finger auf mich, „hat mein T-Shirt gelesen.“

Der Schaffner blickte sie verständnislos an. „Ja, und?“

Gerda schluchzte, wie sie nicht mehr geschluchzt hatte, seit Otto sie verlassen hatte. „Meine Brüste sind ihm egal.“

 

* * *