Ein Jud bleibt
immer ein Jud
Die Juden - ein Produkt der Antisemiten?
Es war ein bemerkenswertes
Schauspiel, das seinerzeit der ehdem 2.
Vorsitzenden der F.D.P., Jürgen
Möllemann, und der weiland 2. Vorsitzende des
Zentralrats der Juden, Michael Friedmann, einem verwöhnten
Publikum boten.
Möllemann hatte die
Politik Israels gegenüber den Palästinensern kritisiert, die
in der Tat kritisierenswert ist. Friedmann interpretierte
diese Kritik als antisemitisch und wehrte sich
temperamentvoll dagegen. Möllemann konterte: Mit
der Unterstellung, seine, Möllemanns, Kritik sei
antisemitisch, trage Friedmann erheblich zur Anheizung des
Antisemitismus in Deutschland bei.
Möllemanns Kritik an
Israel war vielleicht antisemitisch
gewesen, seine Kritik an Friedmann war es gewiß. Möllemann griff
dabei auf eine altbewährte Argumentationslinie zurück: Die
Juden sind schuld am Antisemitismus.
Es ist ja auch logisch:
*
Wenn die Juden nicht so jüdisch
wären, würde sich keiner über sie aufregen.
*
Wenn die Juden gar nicht wären,
könnte niemand, schon gar nicht die Juden, anständige
Menschen des Antisemitismus bezichtigen.
Ohne die Juden wäre
manches leichter.
Judenhaß im Altertum
Vorbehalte gegen die Juden
waren schon im Altertum eine verbreitete Erscheinung. Die
Stammesreligion der Juden verehrte einen einzigen Gott, der
strenge Ausschließlichkeit für sich beanspruchte.
Damit zogen die Juden Verwunderung, Unmut, ja Haß auf sich.
Die Himmel des Altertums waren
schließlich von einer Unzahl von Göttern bevölkert, die
miteinander, oft gegeneinander, in Beziehung standen. Es
war eine selbstverständliche Geste eines
militärisch unterlegenen Volkes, sich vor den
offensichtlich stärkeren Göttern der Sieger zu
verneigen. Es war ein selbstverständlicher Brauch der
Sieger, den Besiegten ihre Götter zu lassen, solange sie die
Vormacht der eigenen Götter anerkannten.
In diese, im Großen und
Ganzen tolerante Welt der Vielgötterei paßte der
eifersüchtige Gott der Juden so gar nicht hinein. Den antiken
Menschen war die Vorstellung eines einzigen Gottes
unverständlich. Unerträglich war es ihnen, daß die
Juden jegliche - auch nur oberflächlich respektvolle -
Verneigung vor ihren eigenen Göttern verweigerten.
Judenhaß im Mittelalter
Das Christentum begann seine
Karriere zur Weltreligion als jüdische Sekte, gegründet von
den Schülern des Rabbi Jesus. So selbstverständlich begriff
man sich als jüdische Religionsgemeinschaft,
daß das Urchristentum geprägt war von der Frage, ob
überhaupt Heiden - also Nichtjuden - in die christliche
Gemeinschaft aufgenommen werden konnten und durften.
Als dann die im Prinzip
jüdische Ein-Gott-Religion zum Normalfall wurde, hätten
eigentlich die Juden ganz normal unter den Anhängern des Juden
Jesus leben können. Jetzt aber warfen religiöse Eiferer den
Juden vor, sie seien die Mörder Gottes.
Ein solcher Vorwurf ist
widersinnig. Damit ist noch nicht mal die simple Tatsache gemeint,
daß es nicht jüdische Behörden waren, die Christus
gekreuzigt haben, sondern römische. Es waren auch nicht die
Juden, welche Pilatus zur Kreuzigung gedrängt hatten, sondern
einige wenige Rabbiner. Auch der naheliegende Gesichtspunkt,
daß in einer Geschichte, die unter Juden spielt, notwendigerweise
auch die Schurkenrolle von Juden gespielt werden muß, verdient -
so richtig er ist - nur eine Erwähnung am Rande.
Nein, der wahre Wahnsinn
kriecht uns entgegen, wenn wir die Sache vom theologischen
Standpunkt aus betrachten. Jeder Christ lernt, es sei Jesus
Christus auf die Welt gekommen, um uns Menschen durch
seinen Kreuzestod von der Erbsünde zu befreien. Damit wird die
Kreuzigung zu einer von vornherein abgekarteten Sache Gottes.
Die Erlösung ist durch Christi Kreuzestod über uns
gekommen und nur durch ihn und ohne den Kreuzestod wäre
immer noch keine Erlösung. Das Christentum verdankt
seine Existenz dem Umstand, daß der Hohe Rat zu Jerusalem samt
Pontius Pilatus so freundlich waren, das zu tun, was um des Heiles willen auf jeden Fall getan werden
mußte.
Wer seinen christlichen Glauben
ernst nimmt, müßte dem Hohepriester Kaiphas
dankbar die Füße küssen, daß er die
Verurteilung und Hinrichtung Jesu betrieben hat.
Judenhaß in der Neuzeit
Die Philosophie der
Aufklärung drängte seit dem 18. Jahrhundert die Rolle der
Religion im öffentlichen Leben und im privaten
Bewußtsein zurück, strenggläubige Christen gerieten in
die Minderheit.
Nun also, da die
religiösen Vorwürfe gegen die Juden mangels öffentlichem Interesse an der Religion
uninteressant geworden waren, hätte wirklich eine Ruhe sein
können.
Spätestens seit dem 19.
Jahrhundert begriff man aber Juden nicht mehr als Mitglieder einer
Religionsgemeinschaft, sondern als Angehörige eines Volkes,
ja einer Rasse. Zum religiösen Antijudaismus - der
weiterlebte - kam der rassische Antisemitismus hinzu. Nicht mehr die
falsche Religion macht seither die Juden minderwertig und
hassenswert, sondern genetisch in ihrer Rasse verankerte
Charakterdefekte.
Um den rassischen
Antisemitismus zu begründen, waren einige halsbrecherische
Verbiegungen der Realität notwendig. Dummerweise
fehlt nämlich heute - nach 2000 Jahren in der Diaspora - den Juden
so ziemlich alles, was sie als ein
Volk, eine Rasse definieren könnte: ein
gemeinsames Siedlungsgebiet, ein einigermaßen gleichartiges
Aussehen, eine gemeinsame Sprache sowie eine gemeinsame kulturelle
Tradition, jenseits der religiösen Überlieferung.
*
Seit Titus im Jahre 70 n. Chr. den
Tempel zerstörte und Palästina von den Juden
entvölkerte, blieben diese in alle Winde zerstreut.
Auch nach der Gründung des Staates Israel leben immer noch
weit mehr Juden über den Erdball verstreut, als in Israel selbst.
*
Allen Gerüchten zum Trotz gibt es
den physiognomischen Typus des Juden nicht. Die sephardischen (d. h. portugiesischen)
Juden aus dem Mittelmeerraum und die aschkenasischen
(d. h. deutschen) Juden aus Mittel- und Osteuropa sind optisch nicht
unter einen Hut zu bringen, von den äthiopischen Juden negroiden
Typs gar nicht zu reden.
*
Die meisten Juden außerhalb
Israels sprechen die Sprache ihres Heimatlandes. Wenn sie
hebräisch sprechen, so sprechen sie es - nicht selten
mit Mühe und Akzent - als Fremdsprache. Das Jiddische ist/war
zwar eine lebendige Verkehrssprache, aber es war von Anfang an nur die
gemeinsame Sprache der Aschkenasim, also der aus Deutschland
kommenden Juden.
*
Nehmen wir aus der Kultur der
Juden alles heraus, was direkt oder indirekt einen
religiösen Hintergrund hat, bleibt nichts mehr
übrig. Für den Staat Israel ist es ein großes
innenpolitisches Problem, die fundamentalen Unterschiede
im kulturellen Hintergrund ihrer Einwanderer unter einen Hut zu
bringen.
Es gibt kein jüdisches Volk mehr, das ist es. Die zweitausend Jahre der Diaspora
haben ihre Spuren hinterlassen.
Die Theorie von der Existenz
eines jüdischen Volkes unabhängig von der Religion brachte
das christliche Abendland darüber hinaus in peinliche
Verlegenheit. Sämtliche Personen nämlich,
die als Begründer des Christentums verehrt werden, sind
Juden. Das zwingt christliche Antisemiten dazu, den Juden Paulus als
den großen Theoretiker ihrer Religion anzuerkennen, auf den Knien
vor der Jüdin Maria herumzurutschen, den Juden Jesus anzubeten um
anschließend die von Grund auf verderbte Rasse der Juden zu
verfluchen.
Kirchenaustritte I
Wenn christliche Judenfeinde im
Mittelalter ein Pogrom veranstalteten, dann galt ihr Heiliger Zorn der
Irrlehre des mosaischen Glaubens. Wer von den bedrängten Juden
seinem Glauben abschwor und sich taufen ließ, wurde meist
verschont und konnte sein Leben retten.
Ein bitterer Ausweg, den man im
Mittelalter den religiös verfolgten Juden wies. Aber
immerhin: ein Ausweg. Ein Ausweg, der den rassisch verfolgten
Juden von gestern und heute versperrt ist. "Aus der Rasse kannst du
nicht austreten", hat es mal ein Nazi formuliert.
Ein als Katholik geborener
Deutscher, der sich im Laufe seiner Entwicklung so weit von der
Kirche entfernt, daß ihm diese nichts mehr sagt, schreibt
einen Brief an die zuständige
Diözesanverwaltung. Er erklärt seinen
Kirchenaustritt und gilt fortan als konfessionsloser Deutscher.
Ein als Jude geborener
Deutscher, der sich in gleicher Weise von den religiösen Wurzeln
seiner Kindheit entfernt hat, hat die gleichen Möglichkeiten,
einen sauberen Trennstrich zu ziehen.
Theoretisch.
Praktisch ist es ihm fast
unmöglich.
Denn er ist Angehöriger
einer Minderheit, die seit zweitausend Jahren von ihrer jeweiligen
Umwelt gehaßt, verfolgt, erschlagen wurde. Als Jude wird er
in Deutschland zwar (derzeit? noch?) nicht verfolgt und offen
diskriminiert, der antisemitische Reflex funktioniert aber
hierzulande immer noch - siehe Möllemann und das
Wählerpotential, auf das er spekuliert hat. Mehr oder weniger
offene Verfolgung müssen Juden in anderen Teilen der Welt aber
immer noch erdulden.
Und aus dieser bedrängten
Gemeinschaft soll er, einiger theologisch-philosophischer
Glaubenszweifel wegen austreten? Diese Gemeinschaft soll er
schwächen, indem er sie um ein Mitglied vermindert? Diesem Druck
von außen soll er sich feige entziehen, indem er sich einfach aus
der mosaischen Religionsgemeinschaft davonschleicht?
Ilja Ehrenburg (1891-1967),
russischer Schriftsteller jüdischer Herkunft, Marxist und Atheist,
hat es auf den Punkt gebracht: "Ich werde stets wiederholen, daß
ich Jude bin, solange es auf der Welt auch nur einen Antisemiten gibt."
Wie sauer einem Juden der
Abschied von seiner Religion gemacht wird, erhellt auf drastische
Weise die Geschichte der Philosophin Edith Stein, Schülerin
und Mitarbeiterin von Edmund Husserl.
Sie wurde 1942 wegen ihrer jüdischen Abstammung von der Gestapo
verhaftet und nach Auschwitz verbracht. Weil sie damals längst zum
katholischen Glauben konvertiert und in den Karmeliterorden eingetreten
war, wurde ihr unter Berufung darauf eine Rettung aus Auschwitz in
Aussicht gestellt. Ihre Antwort auf dieses Angebot ist
überliefert: "Warum soll ich eine Ausnahme erfahren? Ist dies
nicht gerade Gerechtigkeit, daß ich keinen Vorteil aus meiner
Taufe ziehen kann? Wenn ich nicht das Los meiner Schwestern und
Brüder teilen darf, ist mein Leben zerstört."
Edith Stein hatte also den
Schritt weg von der mosaischen Religion bereits vollzogen. Sie
hatte seit 20 Jahren als katholische Nonne gelebt. Und als es dann
buchstäblich um Leben und Tod ging, war sie nicht in der Lage,
ihre Herkunft zu verleugnen und sich wirklich und wahrhaftig aus dem
Judentum zu entlassen. Sie hätte nach dieser Rettung
offensichtlich nicht mehr weiterleben können.
Universaljuden
Das Beispiel Edith Stein zeigt
aber auch, daß ein Jude, der sich allen inneren Schwierigkeiten
zum Trotz vom Judentum löst, von seiner Außenwelt mitnichten
aus dem Jude-Sein entlassen wird. Ein Jud bleibt immer ein Jud.
Noch während ihrer
Heiligsprechung im Jahre 1998 bezeichnete Johannes Paul II. Edith Stein
als "katholische Jüdin". Er sagte nicht: "jüdische
Katholikin". Das, was ihr anhaftet, und was sie ihr Leben lang nicht
los wurde (und ihre Kinder, hätte sie welche gehabt, auch nicht),
ist die Eigenschaft "Jude".
Heinrich Heine ließ sich
taufen und war trotzdem für die Nazis und die Antisemiten vor ihnen der "jüdische Dichter",
der er bis zum heutigen Tag geblieben ist. Karl Marx, der Prediger des
Atheismus, ist nichtsdestotrotz der Jude Marx. Der Erz-Atheist Sigmund
Freud, der die wahrscheinlich gescheiteste und folglich
gnadenloseste Analyse der Religionen geschrieben hat, ist immer der
Jude Freud geblieben. Der Erzbischof von Paris, Kardinal Lustiger, ist
in der katholischen Hierarchie ganz weit nach oben aufgestiegen und
dennoch versäumt es kein kundiger Journalist, auf seine
jüdische Abstammung hinzuweisen.
Kirchenaustritte II
Obwohl heute die Religion
für die meisten Menschen nur noch eine dekorative Rolle spielt,
gehörte noch vor 15 Jahren die überwiegende Mehrzahl
aller Bürger der Bundesrepublik Deutschland einer der
großen christlichen Konfessionen an. Konfessionslose waren in der
Bundesrepublik eine unbedeutende Minderheit von ein paar
Prozent. Seit der Wiedervereinigung ist ihr Anteil drastisch in die
Höhe gestiegen, denn in den neuen Bundesländern ist
Konfessionslosigkeit der Normalfall.
In der DDR brachte es keinen
Vorteil, einer Kirche anzugehören, im Gegenteil. Wer aus der
Kirche austrat, konnte dies ohne Nachteile für Beruf oder
gesellschaftliches Ansehen tun. Der Verdacht, daß die
Kirchenaustritte auf Druck geschahen, liegt nahe, wird aber durch die
Erfahrung widerlegt, daß nach der Wiedervereinigung von
der Möglichkeit des Wiedereintritts so gut wie kein Gebrauch
gemacht wurde.
Die Tendenz zu einem
säkularen, d. h. von der Religion kaum noch beeinflußten
Denken und Leben ist überall in der westlichen Welt zu
beobachten. Die in ihr lebenden Juden sind von dieser Entwicklung
nicht ausgenommen.
Strenggläubige Juden sind
heute selbst in Israel eine kleine Minderheit. Die große Mehrzahl
der israelischen Juden hat eine liberale oder achselzuckend hinnehmende
oder bewußt ablehnende Haltung gegenüber der
Religion. Für die über den Rest der Welt verteilten Juden
gilt dies ebenfalls.
Streng gläubig - was sonst?
Seit dem modernen Menschen der
Glaube an einen Gott und an ein Jenseits abhanden gekommen
ist, stufen wir die Glaubensstärke von Menschen gerne in einer
Tabelle ab, vom strenggläubigen Fundamentalisten
über den nach Glaubensreform rufenden Modernisten bis zum
Kirchensteuerheiden.
Die drei großen
monotheistischen Religionen - Judentum, Christentum und Islam - sind
aber keine Baukastenreligionen, aus denen ich mir je nach Gusto
eine Weisheit hier, einen Glaubenssatz da herauspicke, um mir
eine private, kommode Individualreligion zusammenzubauen. Es sind
Offenbarungsreligionen, ihr Glaubensinhalt ist in Heiligen Büchern
festgelegt, an diesen Glaubenssätzen läßt sich nicht
deuteln. Wem die Bibel Gottes Wort ist, dem muß sie es ganz sein.
Wem die Bibel nicht Gottes Wort ist, mag ein ehrenwerter Mensch
sein, ein Christ ist er nicht.
*
Da in der Bibel homosexueller
Geschlechtsverkehr verdammt wird, ganz eindeutig verdammt wird,
muß sich der homosexuelle Christ, der seiner sündigen Lust
nachgibt, im Stande der Sünde sehen. Das Recht, dieses Verbot
unvernünftig und unmenschlich zu finden, hat er; aber er hat
es nicht innerhalb einer der christlichen
Religionsgemeinschaften. Punkt.
*
Das Wort des Apostels Paulus, das Weib
habe in der Gemeinde zu schweigen, steht und gilt noch immer. Zwanglos
ist daraus abzuleiten, daß Frauen kein Priesteramt in der
Kirche ausüben dürfen. Ich finde jede Menge Argumente
gegen dieses Verbot in der Vernunft. In der Bibel finde ich sie nicht.
An einer Offenbarungsreligion
ist nichts zu reformieren. Sie steht. Sie steht entweder ganz da oder
gar nicht. Wer einen in den Heiligen Büchern
formulierten Glaubenssatz aus ihr herausbricht, bringt das ganze
Gebäude des Glaubens zum Einsturz.
Ich bin demnach entweder ein
strenggläubiger Fundamentalist oder ich stehe bereits
außerhalb des Glaubens.
Ich weiß auch, daß
diese Beschreibung von Religiosität nicht
die empirische Wirklichkeit wiedergibt. Diese Wirklichkeit ist vielmehr
ein
rechtes Durcheinander. Jeder holt sich aus der Bibel, aus der
Überlieferung,
das heraus, was ihm in den Kram paßt und tut das andere
achselzuckend ab. Die
Kirchengeschichte ist der Beweis für die Geschmeidigkeit im
Anpassen an die
jeweiligen Bedürfnisse. Wenn die Religion irgendwann irgendwo
zwickt und zwackt
geht man halt zum Änderungstheologen und läßt sie sich
umdeuten. Dafür sind diese Leute schließlich da.
Fachkundig machen sie den Glauben auf
eine geschmeidige Weise passend und behaupten die jeweiligen Neuerung
dann als
ehern seiend.
Eine liberale, den Neuerungen
aufgeschlossene Religiosität ist nichts weiter als eine
spirituelle Lebensversicherung. Ein Zipfelchen vom
Glauben behältst du in der Hand, nur für den Fall, daß
es nach dem Tode doch ein Jenseits geben sollte. Dann zeigst du dein
Zipfelchen vor, gibst es für ein ganzes Kleid aus und hoffst, dich
damit in die Ewige Seligkeit zu mogeln.
Religiöse Menschen in des
Wortes eigentlicher Bedeutung sind Menschen, die sich ein Leben
ohne Religion nicht einmal vorstellen können.
Als wirklich religiöser Mensch bin ich religiös ist einem
tief-existentiellen Sinn. Das Transzendente existiert für mich so, wie das
Butterbrot existiert, von dem ich abbeiße. Wenn Gott zu Abraham kommt und ihm
sagt, er möchte doch bitte so freundlich sein und seinen Sohn opfern, dann
schultert Abraham das Opferbesteck und macht sich, - seufzend, aber doch - auf
den Weg. Das ist Religion und nicht das Entwerfen und immer wieder neu Entwerfen von theologischen Konzepten.
Zumindest in
den westlich geprägten Ländern sind religiöse Menschen
in des Wortes eigentlicher Bedeutung - egal von welcher Religion die
Rede ist - zu einer verschwindenden Minderheit geworden.
Eine Welt ohne Antisemitismus - eine Welt ohne
Juden
Juden haben in der
europäischen Kultur- und Geistesgeschichte ungemein nachhaltige
Spuren hinterlassen. Das fängt lange vor der Jungfrau Maria
buchstäblich bei Adam und Eva an und setzt sich nach Jesus
über Baruch Spinoza und Albert
Einstein bis zu Hans Rosenthal und Woody Allen fort. Ein Abendland
ohne Juden ist vorstellbar, wäre dann aber kein Abendland mehr.
Wie die Juden, so sind stets
auch der Antijudaismus und später der Antisemitismus
ständige, hochwirksame Faktoren in der europäischen
Geschichte gewesen. Es ist ein interessantes Gedankenspiel, sich
vorzustellen, was geschehen wäre, wenn es die Christenheit im
Laufe der Jahrhunderte gelernt hätte, die unter ihnen
lebenden Juden gelassen und selbstverständlich als Nachbarn
anzusehen.
Ohne religiös
begründete antijüdische Affekte - die sich
später dann selbständig gemacht haben und ein Eigenleben entwickelten - hätte es in der Neuzeit
keinen Anlaß gegeben, den hinfällig gewordenen Antijudaismus
in einen rassisch begründeten Antisemitismus
überzuführen. Niemand hätte also daran
gedacht, ein jüdisches Volk, eine jüdische Rasse
unabhängig von der mosaischen Religion zu erfinden.
Jüdische Identität hätte sich weiterhin
ausschließlich durch die Zugehörigkeit
zur mosaischen Religionsgemeinschaft definiert. Jeder Jude, der sich
seiner Glaubensgemeinschaft entfremdet hätte
und schließlich aus ihr ausgetreten wäre, hätte - vor
sich selber und in den Augen der anderen - aufgehört, ein Jude zu
sein.
Und ohne den ungeheuren Druck
des Antisemitismus wären gleichgültig oder atheistisch
gewordene Juden aus der mosaischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Es
hätten wahrscheinlich mehr Juden ihre
Religionsgemeinschaft verlassen, als tatsächlich Christen die
ihrige, denn materielle Vorteile hätten sie nicht zum Verbleiben
verlockt. Geblieben wäre die Minderheit der orthodoxen Juden.
Ohne den Antisemitismus
gäbe es nur noch sehr wenig Juden auf der Welt.
Auch in Israel nicht. Vor allem nicht in Israel. Der Staat
Israel ist das Produkt des europäischen Antisemitismus, der im Völkermord der
Nazis seinen Höhepunkt erreichte.
Ohne Antisemitismus hätten es sich die Juden in Europa und
Amerika bequem einrichten können. Niemand, von wenigen, viel zu wenigen religiösen
Fundamentalisten abgesehen, hätte die nötige Power entwickelt, nach Palästina
auszuwandern, um dort gegen enorme Widerstände den Staat Israel zu gründen. Nur
der ständige, manchmal lästige, fast immer demütigende und oftmals auch
lebensgefährliche Antisemitismus hat den nötigen Druck erzeugt, den Traum vom
zionistischen Staat zu verwirklichen.
Theodor Herzl schreibt in seinem Buch "Der Judenstaat" von 1896:
"Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden
Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren.
Man läßt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar
überschwengliche Patrioten. (. . ) In unseren Vaterländern, in denen wir ja
auch schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrien(.
. ) Wer der Fremde im Lande ist, das kann die Mehrheit entscheiden; es ist eine
Machtfrage (. . ). Im jetzigen Zustande der Welt und wohl und wohl noch in
unabsehbarer Zeit geht Macht vor Recht (. . ) Wenn man uns in Ruhe ließe (. .
)aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen."
Nachbemerkung:
Manchmal passieren einem ganz merkwürdige Dinge. Du siehst
etwas, du merkst, daß da was nicht stimmen kann und du wunderst dich, daß das
anscheinend keinem auffällt. Also setzt du dich hin und schreibst einen Text,
in dem du darlegst, was dir aufgefallen ist und warum es nicht stimmen kann.
Und dann ist der Text draußen und irgendwann später fällt
dir ein Aufsatz in die Hand und dir wird klar, daß du nicht der erste bist, dem
die Merkwürdigkeit aufgefallen ist.
Am 22. Juli 2002 war in der
"Neuen Zürcher Zeitung" ein Aufsatz von Michael Brenner mit dem Titel
"Antisemitismus und moderne jüdische Identität"
erschienen. Dort liest man unter anderem:
Ein grosser Teil der
liberalen deutschen Juden organisierte sich, wachgerüttelt von den politischen
Erfolgen der Antisemiten im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, im
«Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens», während andere, die
sich wie der erste bayrische Ministerpräsident, Kurt Eisner, längst von ihren
Bindungen zur jüdischen Religion und Gemeinde losgesagt hatten, bekräftigten: "Solange
das Judentum noch eine verfolgte Gemeinschaft ist, will ich mich nicht von ihr
lossagen." Später sollten bereits getaufte Juden, wie Emil Ludwig oder
Arnold Schönberg, auf unterschiedlichste Art und Weise wieder ihren Weg zurück
zum Judentum finden - in beiden Fällen inspiriert durch Begegnungen mit dem
Antisemitismus.
Der Antisemitismus als
ein internationaler Verein zum Erhalt des Judentums also? Am bekanntesten
vertrat diese These kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs Jean-Paul Sartre: "Weder
ihre Vergangenheit noch ihre Religion, noch ihr Boden vereinen die Söhne
Israels. Wenn sie ein gemeinsames Band haben, wenn sie alle den Namen Jude
verdienen, so weil sie eine gemeinsame Situation als Juden haben, das heisst in
einer Gesellschaft leben, die sie für Juden hält. Mit einem Wort, der Jude ist
durch die modernen Nationen völlig assimilierbar, aber er wird als derjenige
definiert, den die Nationen nicht assimilieren wollen. Auf ihm lastet von
Anbeginn, dass er der Mörder Christi ist. (Vgl. hierzu meine obigen Anmerkungen
zum logischen Wahnsinn dieser Beschuldigung.) Der Antisemit macht den Juden... Der Jude ist ein Mensch, den die
anderen Menschen für einen Juden halten", behauptet Sartre...
(...)
Die These freilich,
dass der Judenhass für das Überleben der Juden verantwortlich ist, reicht
weiter zurück als der Begriff Antisemitismus und hat einen jüdischen Urheber,
den Philosophen Baruch Spinoza: "Heutigentags haben daher die Juden gar
nichts mehr, was sie sich vor allen Völkern zuschreiben
können . . . Dass aber der Hass der Völker es ist, der sie in
erster Linie erhält, das hat schon die Erfahrung gezeigt", teilte der
holländische Denker sephardischer Herkunft den Lesern seines "Theologisch-politischen
Traktats" mit.
Seitdem haben Juden
immer wieder, verstärkt freilich in den letzten beiden Jahrhunderten, auf die Judenfeindschaft
als zentralen Bestandteil einer diffuser werdenden jüdischen Identität
verwiesen. Je weniger sie die jüdische Religion praktizierten, die hebräische
oder jiddische Sprache beherrschten und in einer klar jüdisch definierten Umgebung
wohnten, desto mehr liessen Juden sich ihr Judentum von aussen definieren. "Erst
im 19. und 20. Jahrhundert, als die Emanzipation vollzogen war und die
Assimilation sich ausbreitete, begann der Antisemitismus eine Rolle für die
Konservierung des Volkes zu spielen, da erst jetzt die Juden überhaupt den
Ehrgeiz entwickelten, zur nichtjüdischen Gesellschaft zugelassen zu werden",
bemerkte Hannah Arendt...
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