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KASPAR HAUSER
+ 17. 12. 1833
Eine Fußnote zur Weltgeschichte
Vor über 170 Jahren, am 17. 12. 1833,
erlag Kaspar Hauser, Findling von Beruf, in Ansbach
den Verletzungen, die ihm drei Tage zuvor bei einem Messerattentat im
ansbachischen Hofgarten zugefügt worden waren.
MEIN NAME IST HAUSER, ICH WEISS VON NICHTS
Fünfeinhalb Jahre zuvor, am 26. 5.
1828, ist besagter Kaspar Hauser vom Licht dieser Welt erblickt worden,
dergestalt nämlich, daß er Gegenstand eines amtlichen
Aktenvermerkes wurde; eine Aufmerksamkeit, welche dem damals ca. 16
Jahre alten Halbwüchsigen niemals zuvor zuteil geworden war.
Der sechsundzwanzigste Mai des Jahres
Achtzehnhundertachtundzwanzig war ein wunderschöner
Frühlingstag und Pfingstmontag dazu. Welche beiden Umstände
dazu führten, daß die weiland Freie Reichsstadt
Nürnberg - eine im Verhältnis zu ihrer damaligen
Bevölkerung (ca. 30.000 Einwohner) ohnehin sehr weitläufige
Stadt - am Nachmittag recht wundersam still und menschenleer war,
allweil der große Teil der Einwohner auf das Land und in die
umliegenden Ortschaften sich zerstreute.
An diesem faulen Feiertagsnachmittag - so
gegen 16.00 Uhr - tritt eine merkwürdige Gestalt auf zwei
Nürnberger Schuhmachermeister zu, die am Unschlittplatz - unweit
der Pegnitz und der westlichen Stadtmauer gelegen - einen
müßigen Plausch halten, und spricht sie an. Wobei "treten"
und "sprechen", genau besehen, schon zuviel gesagt ist. In "höchst
auffallender Haltung des Körpers" vielmehr stand der
Ankömmling da und mühte sich, einem Betrunkenen ähnlich,
zu gehen, ohne dabei aber seine Füße in der üblichen
Zweibeinerweise regieren zu können. Die beiden Handwerker gehen
der merkwürdigen Gestalt entgegen, welche ihnen einen versiegelten
Brief entgegenhält und etwas brabbelt von "Neu-Tor" und "A
söchtener Reiter möcht i wähn, wia mei Votta wähn
is". Auf Fragen antwortet er mit "woaß nit", "hamweisen" und den
bereits genannten Worten. Auch greift er einzelne Worte aus der Rede
der Schuster auf und plappert sie in mehrfachen Wiederholungen nach.
Mehr ist aus dem seltsamen Vogel vorerst nicht rauszubringen, so
daß man ihn zur Torwache an besagtem Neu-Tor geleitet. Auch dort
wird man mit diesem Fall nicht recht glücklich. Der versiegelte
Brief - soviel stellt man fest - ist adressiert "An Tit. Hr.
Wohlgebohner Rittmeister bey der 4ten Esgataron (Eskadron) bey 6ten
Schwolische (Cheveaulègers = leichte Kavallerie) Regiment in
Nierberg". Nachdem man den Unbekannten eine Zeitlang vergeblich zu
verhören versucht hat, schickt man ihn zu besagtem Rittmeister,
einem Freiherrn von Wessenig, welcher ganz in der Nähe des Neuen
Tores wohnt. Der öffnet den Brief und findet darin folgenden, in
gotischer Frakturschrift verfaßten Text:
Von der Bäiernschen Gränz
Daß Orte ist unbenannt
1828
Hochwohlgebohner
Hr. Rittmeister!
Ich
schücke ihner ein Knaben der möchte seinen König getreu
dienen
Verlangte Er, dieser
Knabe ist mir gelegt worden. 1812 den 7. Ocktober, und ich selber ein
armer Taglöhner, ich Habe auch selber 10 Kinder, ich habe selber
genug zu thun, daß ich mich fortbringe, und seine Mutter hat mir
um Die erziehung daß Kind gelegt, aber ich habe sein Mutter nicht
erfragen Könen, jetz habe ich auch nichts gesagt, daß mir
der Knabe gelegt ist worden, auf den Landgericht. Ich habe mir gedenckt
ich müßte ihm für mein Sohn haben, ich habe ihm
Christlichen Erzogen, und habe ihm Zeit 1812 Keinen Schrit weit aus dem
Haus gelaßen daß kein Mensch nicht weiß da von wo Er
auferzogen ist worden und Er selber weiß nichts wie mein
Hauß Heißt und daß ort weiß er auch micht, sie
derfen ihm schon fragen er kan es aber nicht sagen, daß lessen
und schreiben Habe ich ihm schon gelehrte er kan auch mein Schrift
schreiben wie ich schreibe, und wan wir ihm fragen was er werde so
sagte er will auch ein Schwolische werden waß sein Vater gewessen
ist. Will er auch werden, wer er Eltern häte wir er keine hate wer
er ein gelehrte bursche worden. Sie derfen im nur was zeigen so kan er
es schon. Ich habe im nur bis Neumark geweißt da hat erselber zu
ihnen hingehen müßen ich habe zu ihm gesagt wen er einmal
ein Soldat ist, kome ich gleich und suche ihm Heim sonst häte ich
mich Von mein Hals gebracht
Bester Hr. Rittmeister sie derfen ihm gar nicht
tragtiren er weiß mein Orte nicht wo ich bin, ich habe im mitten
bei der nacht fort gefürth er weiß nicht mehr zu Hauß.
Ich empfehle mich gehorsamst
Ich mache meinen Namen nicht
Kuntbar den ich Konte gestraft
werden
Und er hat Kein Kreuzer geld nicht bey ihm weil
ich selber nichts habe wen Sie im nicht Kalten so müßten Sie
im abschlagen oder in Raufang auf henggen
Diesem Brief des Aussetzers beigelegt ist
ein Zettel, auf welchem in lateinischer Schrift zu lesen steht:
Das
Kind ist schon getauft
sie Heist Kaspar in Schreib
name misen sie im selber
geben das Kind möchten
Sie auf Zihen sein Vater
ist ein Schwolische gewesen
wen er 17 Jahr alt ist so
schicken sie im nach Nirnberg
zu 6ten Schwolische
Regiment da ist auch sein
Vater gewesen ich bitte um
die erzikung bis 17 Jahre
gebohren ist er am 30 Aperil
1812 im Jaher ich bin ein
armes Mägdlein ich kan
das Kind nicht ernehren
sein Vater ist gestorben
EINE RÜHRENDE STORY MIT HAKEN
Eine rührende Story, welche die beiden
Briefe hier erzählen. Da ist ein armes Mägdlein von einem
Soldaten geschwängert worden, welcher alsbald starb und die ledige
Mutter hilflos mit dem Kind zurückließ. In ihrer Not legt
das Mägdlein einem nicht minder armen Taglöhner das Kind vor
die Tür. Dieser - ein zehnfacher Vater, den die Not selber arg
bedrängt - nimmt das Kind tatsächlich auf, zieht es
groß, verheimlicht seine Existenz aber vor den Behörden und
vor den Nachbarn, läßt es all die langen Jahre eingesperrt
im Haus, bringt es nunmehr in die menschliche Gesellschaft zurück.
Noch ehe man von Kaspar Näheres
über die Umstände seines Vorlebens erfahren kann, machen die
Schriftstücke stutzig. Zum ist die Handschrift beider Botschaften
- wenngleich in verschiedenen Schriftarten verfaßt - einander
recht ähnlich. Später gemachte graphologische Gutachten
erhärten diesen Verdacht. Das Papier ist von gleicher
Beschaffenheit bei beiden Schriftstücken, vom äußeren
Eindruck her ist es auch die gleiche Tinte (chemische Analysen wurden
damals natürlich nicht gemacht; heute sind uns nicht mehr die
Originale, sondern lediglich - angeblich gut gemachte -
Faksimile-Kopien erhalten). Der Mägdleinszettel, der von sich
behauptet, 1812 verfaßt und dem Baby beigegeben worden zu sein,
war mitnichten vergilbt, vielmehr kaum älter als der eigentliche
Brief. Zudem war dieser Zettel in lateinischer Schrift abgefaßt,
einer Schrift also, welche damals in den Volksschulen gar nicht gelehrt
wurde. Die übliche Schrift war noch die gotische Fraktur der
Luther-Zeit (nicht, wie oft angenommen wird, die eckige
Sütterlin-Schrift, welche noch unsere Eltern und Großeltern
lernten. Ludwig Sütterlin, 1865 - 1917, erfand seine Schrift erst
sehr viel später). Überdies lag 1812 das 6.
Cheveaulègers-Regiment noch nicht in Nürnberg.
Der Hochwohlgebohne Hr. Rittmeister
jedenfalls dürfte froh gewesen sein, daß es auch damals
schon zuständige Behörden gab, denen man das Rätselkind
andrehen konnte, die sich um eine - wie immer geartete -
Weiterverfolgung des Falles nicht herumdrücken konnten.
GEPFLEGTER KÖRPER MIT IMPFNARBE
Kaspar landete also auf dem Polizeirevier,
allwo man das Verhör der Neu-Tor-Wache wiederholte und fortsetzte.
Was man zu hören bekommt, sind die bereits bekannten Worte und
Satzteile, ergänzt durch Echolalien (Wortwiederholungen) ab und
zu. Bedrängt man ihn, weint er, weist auch auf seine schmerzenden
Füße. Gibt man ihm eine Münze zum Spielen, wird Freude
erkennbar, ruft er "Roß! Roß!" Aus der willkürlichen,
zufälligen Art seines Wortgebrauches läßt sich
erschließen - und spätere Äußerungen Hausers
stützen diese Annahme -, daß er mit den Worten keinen Sinn
verbindet, daß er Geräusche in Wortform produziert, nach Art
eines Papageis. Furcht, Befremden oder Verlegenheit zeigt er nicht,
macht vielmehr einen äußerst stumpfen, blödsinnigen
Eindruck. Als man ihm ein Glas Bier und ein Stück Fleisch
anbietet, weist er dies mit Zeichen größten Abscheus von
sich, ißt dann aber mit großem Appetit trocken Brot, trinkt
frisches Wasser. Als man ihm - weil der Brief ja behauptet hatte, der
Knabe könne schreiben - Feder, Tinte und Papier vorlegt, nimmt er
die Feder recht geschickt in die Hand und schreibt in festen,
leserlichen Zügen einen Namen:
KASPAR HAUSER
Dieses Schreiben aber - wiewohl recht
geschickt und ordentlich - geschieht in der Manier eines mechanischen
Automaten. Verstanden hat Kaspar das, was er da schrieb, offensichtlich
nicht.
Seine Kleidung war nicht besonders gut,
nicht mal nach damaligen Begriffen (Kleidung war damals - als der
mechanische Webstuhl seine Karriere in Deutschland gerade erst begann -
eine Kostbarkeit, selbst für Wohlhabende). Sein Körper aber
war bei seiner Ankunft in Nürnberg reinlich und gepflegt gewesen;
keineswegs verwahrlost, wie oft zu lesen steht oder in Werner Herzogs
Hauser-Film zu sehen ist. Er war damals ca. 1,45 m groß und wog
etwas 140 Pfund, wird auch als "sehr wohl beleibt" beschrieben. An
beiden Oberarmen sind deutlich die Narben einer Pockenschutzimpfung
erkennbar. Ein sehr interessanter Umstand, wenn man in Rücksicht
stellt, daß die Pockenschutzimpfung erst 1796 erfunden worden
war, daß sie lange Zeit noch freiwillig und kostenpflichtig und
also den höheren Ständen vorbehalten war.
Wie selbst aus der Niederschrift noch zu
erkennen ist, sprach Kaspar die wenigen wirren Worte in altbayerischem
Dialekt. Aus welchem Umstand man aber keine weitgehenden Schlüsse
ziehen darf. Die Akten der ersten Hauser-Zeit sind äußerst
schlampig und nachlässig geführt worden (wie schon Anselm von
Feuerbach, Präsident des Appellationsgerichtes in Ansbach und also
vom Fach, rügte). Was genau der neuangekommene Merkwürdling
sagte, wird niemals mehr zu rekonstruieren sein. In den ersten Wochen
nach seiner Ankunft aber wurde er in der Familie des
Gefängniswärters Hiltel betreut, dessen Frau altbayerischen
Dialekt sprach. Hier erst mag sich Kaspar dialektmäßig
infiziert haben.
Außer dem Brief trug Kaspar noch ein
Gebetbuch bei sich, einen Rosenkranz, einen Schlüssel, ein
gefaltetes Papier mit einer geringen Menge Goldsand (das aber auch
gestoßenes Opium gewesen sein könnte) und eine Menge
religiöser Broschüren und Schriften, deren eines den
schönen Titel trägt: "Kunst, die verlorene Zeit und übel
zugebrachten Jahre zu ersetzen."
DAS BIEDERMEIER BEKOMMT EINEN MEDIEN-STAR
Was nun tun mit Kaspar? Man tat, was auch
heute noch in ähnlichen Fällen üblich ist: man sperrt
ihn erstmal ein. Schafft ihn auf den "Luginsland", einen der Türme
der alten Nürnberger Burg, der als Gefängnis für
kriminellen Kleinkram dient. Dort bleibt Kaspar einige Wochen, bis zum
Juli 1828. Wird betreut von Wärter Hiltel und seiner Familie, wird
begafft von Nürnberg und der ganzen Welt. Binnen kurzer Zeit wird
der mysteriöse Findling zu d e m Medienereignis dieser Jahre. (Napoleon ist
seit 13 Jahren aus der Weltgeschichte verschwunden, die
Revolutionswirren von 1848 liegen noch in der Zukunft; der repressive
Friede der metternichschen Restaurationsepoche ist unter'm Strich halt
doch recht langweilig.)
Der Wirbel erreicht einen ersten
Höhepunkt, als Nürnbergs Bürgermeister Binder am 14.
Juli 1828 ("Allons enfants de la patri-hi-je!") in einer
"Bekanntmachung" einem großen Publikum Einzelheiten aus Kaspars
Vorleben unterbreitet.
GESCHICHTEN AUS DER EINZELHAFT
Dieser Bekanntmachung zufolge hat der damals
ca. 16jährige Kaspar sein ganzes bisheriges - ihm bewußtes -
Leben in einem kleinen, engen und - versteht sich - niedrigen
Kerkergemach verbracht, ohne die mindeste menschliche Gesellschaft.
Das Gemach muß zu ebener Erde oder im
Keller sich befunden haben, da der Boden aus festgestampfter Erde
bestand, welche zum Teil mit Stroh bedeckt war. Die Decke bestand aus
Holzbrettern. Zwei kleine Fenster knapp unterhalb der Decke
ließen das immergleiche dämmerfahle Licht herein, was Kaspar
später zu der Vermutung bringt, die Fenster seien mit Holz
verschlichtet gewesen. Ein Ofen in Form eines Bienenkorbes,
offensichtlich von außen beheizbar, sorgte dafür, daß
es im Verließ immer gleich und - wie Kaspar meinte - behaglich
warm war Nicht nur menschliche Gesellschaft mußte Kaspar in den
Jahren im Kerker entbehren - selbst Ungeziefer jeglicher Art schien
sich von diesem eigentümlichen Raume fernzuhalten Noch nicht mal
Geräusche der lebendigen Natur drangen in Hausers Kerker, kein
Vogelzwitschern, Grillenzirpen; kein prasselnder Regen und nicht mal
das Donnern eines Gewitters.
Zu Essen bekam er Wasser und Brot und nur
dieses und nichts sonst, welches beides er nach dem Aufwachen
regelmäßig und ohne Ausnahme vorfand. Hunger litt er nie,
wohl aber Durst, da der Krug recht klein gewesen war. Gelegentlich auch
hat das Wasser einen eigentümlich bitteren Beigeschmack gehabt und
Kaspar wurde daraufhin stets unbezwingbar müde, statt wie sonst
vom Wasser erfrischt zu werden. Kaspar erwähnte diesen Umstand,
nachdem er jenen Geschmack wiedererkannt hatte in einem Wasser, das ein
Arzt zu Versuchszwecken mit wenigen Tropfen Opiumtinktur versetzt
hatte. (Opium, das nur nebenbei, war damals von jedermann wohlfeil zu
erwerben.)
Gedanken, woher dies Brot und Wasser
käme, hat er sich nie gemacht, gedachte, es käme von selber.
(So wie auch der gesellige Mensch der Kultur Wissenschaft erst dann
triebt, wenn irgendetwas nicht stimmt. Wirtschaftswissenschaften - um
nur ein Beispiel zu nennen - hat man erst getrieben, als der simple
Tausch von Produkten naturwüchsig und spontan so recht nicht mehr
funktionieren wollte.) Wenn der Krug leer
war, hat er ihn wieder und wieder an die Lippen gehoben, in der
Hoffnung, es käme irgendwann wieder Wasser nach. Eine
Verknüpfung zwischen dem Schlaf und neuerlicher Speise ist ihm nie
aufgegangen.
Seine Ausscheidungen hat er in einen
Kübel entleert, welcher in einer Bodenvertiefung stand und mit
einem Deckel versehen war (den Kaspar auch stets und gewissenhaft nach
getanem Geschäft wieder drauftat.) Das muß ihn jemand
gelehrt haben; Kaspar aber kann sich daran nicht mehr erinnern. Seine
Hose mußt er sich auch beim Kacken niemals ausziehen (wie auch
sonst nie), da im Schritt ein langer Schlitz sich befand. Von
Körperpflege wußte Kaspar nichts, war aber dennoch immer
sauber und adrett.
Kaspars Haupt- und einzige
Beschäftigung (wenn man vom Stoffwechsel absieht) war das Spielen
mit Holztieren, zwei Pferden und einem Hund. Wobei dies "Spielen" sich
darin erschöpfte, den Holztieren bunte Bänder anzulegen,
sodann wieder abzunehmen, anzulegen usw., usf. Er gab ihnen auch zu
essen und zu trinken, unterhielt sich auch mit ihnen (über welche
Themen auch immer), bewegte sie aber nimmermehr von der Stelle, die
ganzen, langen Jahre nicht. Obwohl die Pferde Räder hatten, ist
Kaspar niemals lauf die Idee gekommen, sie fortzubewegen. Sogar
Unbequemlichkeiten in der eigenen Körperhaltung hat er auf sich
genommen, um den Dingern auszuweichen. Diese Unbeweglichkeit der Pferde
findet sich wieder bei Hauser selbst. Niemals ist er aufgestanden, hat
sich stets nur in hockender Stellung auf dem Boden rutschend
fortbewegt, hat weder je die Wände berührt, noch gar
versucht, aus dem Fenster zu sehen. Nicht mal beim Schlafengehen hat er
diese Haltung aufgegeben, hat immer mit angelehntem Rücken und
sitzend geschlafen. Liegen kam für ihn nicht in Frage. Diese
merkwürdige Gewohnheit war allerdings auch in der allerersten Zeit
seines Nürnberger Aufenthaltes nicht beobachtet worden, zumindest
ist keinem der Zeugen dergleichen berichtenswert. (Und es wäre
ihnen berichtenswert erschienen, wenn sie dergleichen beobachtet
hätten.)
Krank war Kaspar niemals in seiner
Kerkerzeit, kann sich auch an keinerlei körperliche Schmerzen
erinnern. Auch hat er nie geträumt, hat dies erst nach einiger
Zeit in Nürnberg gelernt.
GLAUB' ICH NICHT - GIBT'S NICHT - KANN NICHT SEIN
So bewegend und mitleiderregend diese
Kerkergeschichte auch ist, bei näherem Hinsehen wird man Haken
daran finden.
Hauser hätte, seinen Schilderungen
zufolge, in einer extrem künstlichen Umwelt leben müssen;
einer Umwelt, die in ihrer Künstlichkeit damals einfach technisch
nicht machbar war. Heute wären Gehirnwäsche-Zentren denkbar,
in denen dieser Grad an Perfektion erreichbar wäre - im
Biedermeier nicht.
Immer wenn Hauser aufwachte,
fand er frisches Wasser und neues Brot. Daraus würde folgen,
daß Kaspar Hauser entweder dauernd beobachtet
wurde, was einen enormen Personalaufwand bedeutet hätte (zu
welchem Zweck denn? Einen lästigen Menschen wegsperren kann man
viel einfacher.) Oder aber Kaspar hätte einen sehr
regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus haben müssen. Dazu
aber fehlten ihm die Tageszeiten als Taktgeber. (Heute wissen wir,
daß die Lebensrhythmen in einem Isolierbunker absolut nicht
synchron zum 24-Stunden-Takt laufen.)
Womit wir beim zweiten Problem wären:
volles Tageslicht bekam Kaspar zwar nie zu sehen (der Holzstoß
vor dem Fenster), andererseits aber war es im Kerker auch nie ganz dunkel. Bei der damaligen recht beschränkten
Möglichkeit künstlicher Beleuchtung kann dies nur bedeuten,
daß Kaspar Hauser immer am Tage - und nur am
Tage - wach war. Und dies - wohlgemerkt - ganz spontan, ohne
Fremdeinwirkung. (Das Opiumwasser kann in dieser Hinsicht nicht als
Regler gewirkt haben. Dies Wasser trank er nach dem Aufwachen
und schlief dann immer sofort wieder ein; wahrscheinlich deswegen,
damit der Zimmerservice ungestört Kaspar und den Kerker reinigen
konnte.) Angesichts der großen Unterschiede in den
Hell-Dunkel-Perioden über die Jahreszeiten hinweg, kann sich hier
aber kein entsprechender Rhythmus, der für Sommer und Winter
gleichermaßen passen würde, einpendeln.
Auch die immergleiche behagliche Wärme
dürfte in einem Raum mit scheibenlosen Fensterluken bei den
enormen Frösten unserer Breiten kaum herzustellen sein.
Kein Außengeräusch ist zu Kaspar
gedrungen. Nichts. An die Gewitter, die ängstigenden Donner
wenigstens, müßte er sich erinnern können,
spätestens, als er in Nürnberg erneut solche
Naturerscheinungen erlebte.
Kein Kleingetier ist Kaspar aufgefallen,
kein Ungeziefer hat ihn je belästigt, noch entzückendes
Geziefer erfreut. Ein Unding dies, vor der Erfindung der Insektizide.
Dr. Preu, einer der Ärzte, die Hauser untersucht haben, schlug
hierfür die Erklärung vor, Kaspar sei durch die lange und
extrem reizarme Isolierung auf die Stufe eines Kleinkindes
zurückgefallen und könne sich deshalb nicht mehr dran
erinnern, so wie wir die Geschichte unserer frühen Kindheit nicht
mehr aus eigenem Erleben kennen. Wenn dem so wäre, dann
müßten ihm aber auch die meisten anderen Details aus dieser
Zeit entfallen sein.
Kaspar Hausers strenge und einseitige
Diät - Brot und Wasser und dies in so radikaler
Ausschließlichkeit, daß es lange Zeit brauchte, ihn Schritt
um Schritt an Normalkost zu gewöhnen - würde kein Mensch,
geschweige ein Kind und Heranwachsender, so lange Zeit durchhalten. Das
völlige Fehlen von Vitamin C in seiner Kost hätte ihm den
Skorbut an den Hals gehext, das ebenfalls fehlende Vitamin A hätte
zu Nachtblindheit und schließlich Hornhauterweichung führen
müssen. Kaspar aber konnte - wie noch zu zeigen sein wird - nachts
geradezu gespenstisch gut sehen. Bei seiner Ankunft in Nürnberg
war von Mangelkrankheiten indes nichts zu sehen. Kaspar war im
Gegenteil von überreichlichem Ernährungszustand (wie man
heute Übergewicht schonend formuliert): 70 kg auf 1,45 m
Körpergröße, ein rechter Pummel also. Nach der
medizinischen Wissenschaft dürfte Hauser eine langjährige
Brot- und Wasser-Diät nicht überleben. Kaspar aber
überlebte nicht nur, er blieb bei alledem auch bemerkens- und
beneidenswerter gesund. Keine Art körperlichen Schmerzes ist ihm
aus der langen Kerkerzeit erinnerlich.
ALLES NUR EIN GIGANTISCHER SCHABERNACK?
Diese Ungereimtheiten sind anderen Leuten
natürlich auch schon aufgefallen. Kurze Zeit, nachdem in der
Öffentlichkeit Einzelheiten über Kaspar Hauser allgemeine
Verbreitung gefunden hatten, kursierten die ersten Pamphlete, in denen
kluge Leute und Wichtigtuer den nachweise für die These
versuchten, es sei Kaspar Hauser nichts weiter als ein Betrüger.
Es hätte sich demnach ein Stritzi die ganze Geschichte lediglich
aus den Fingern gesogen.
Warum aber? Um sich von den Nürnbergern
durchfüttern zu lassen? Sicher ein angenehmeres Leben als die
Arbeit auf dem Feld oder in der Fabrik; setzt aber nahezu totale und
allgegenwärtige Selbstkontrolle voraus. Also auf Dauer doch wieder
ein Scheiß-Job. Überdies war keinesfalls mit hinreichender
Sicherheit vorauszusetzen, daß Bürgerschaft und
Behörden so reagieren würden, wie sie's dann tatsächlich
taten. Hätte Kaspar nicht, bei aller Tumbheit und Unbeholfenheit
einen solch gewinnenden Charme ausgestrahlt, wie er dies in hohem Grade
tat, so wäre er vermutlich dort gelandet, wo unnütze
Blödel für gewöhnlich landeten: im Arbeits- oder
Irrenhaus. Im übrigen waren - wie noch zu zeigen sein wird - an
Hauser Eigenschaften zu beobachten, die kaum simuliert werden
können.
Ein gewisser Kurt Kramer hat (in einem
faktenreichen, oft aber auch ärgerlichen, weil wichtigtuerischen
Buch) die These vertreten, es sei Kaspar Hauser mitnichten lange Jahre
in diesem Kerker gehockt, sondern kurze Zeit nur. Durch Hypnose habe
man bei Kaspar Hauser eine künstliche Amnesie
(Gedächtnisschwund) erzeugt, habe ihm jegliche Erinnerung an sein
Leben vor dem - wahrscheinlich nur kurzfristigen -Kerkeraufenthalt
durch einen posthypnotischen Gedächtnisblock geraubt. Als Motiv
für diese aufwendige Aktion nimmt Kramer politische Motive an.
Jene alte - schon 1832 von Feuerbach in einem streng vertraulichen
Brief an die Königinmutter (von Ludwig I.) Karoline von Bayern
formulierte - These nämlich, es sei Kaspar Hauser der legitime
Erbe des badischen Thrones gewesen und aus dynastischen Gründen
aus dem Weg geräumt worden. Später davon mehr; mehr von der
Hypnose, mehr vor allem vom badischen Herrscherhaus.
DIE TRÜBEN QUELLEN DER KERKERGESCHICHTE
Eine dritte Möglichkeit, die
Ungereimtheiten der Kerkerschilderung aufzulösen (welche sich aber
mit der Hypnose-Theorie keinesfalls zu beißen braucht), bietet
sich an, wenn man die Quelle dieser Schilderung etwas näher
untersucht.
Die Kerkerstory des Kaspar Hauser wurde in
seinen Grundzügen und wesentlichen Einzelheiten schon in der
bereits erwähnten "Bekanntmachung" von Bürgermeister Binder
festgeschrieben, welche - verfaßt am 7. 7. - am 14. 7. 1828
(anderthalb Monate nach Hausers Erscheinen in Nürnberg)
veröffentlicht worden war. Alle darin enthaltenen Informationen
über Kaspars Kerkerzeit kann Binder nur von Kaspar selbst erhalten
haben.
Nun war Kaspars Artikulationsfähigkeit
bei seinem Erscheinen - wie wir gehört haben - gleich null. Er
vermochte zwar Geräusche in Wortform zu produzieren, konnte sogar
seinen Namen schreiben, tat aber beides offensichtlich und
unzweifelhaft ohne die mindeste Vorstellung davon, was Buchstaben und
Worte jeweils bedeuteten. Kaspar machte nun zwar in der Folgezeit enorm
rasche Fortschritte im Erlernen von Sprache und Schrift (im November
1828 verfaßte er schon eine recht passable erste Fassung seiner
Lebensgeschichte; wir werden auf diese verdächtig schnelle
Lernfähigkeit noch zurückkommen). Am 11. 7. 1828 (also
nachdem Binder seine Geschichte bereits geschrieben hatte) wurde Kaspar
erstmalig von Paul Anselm von Feuerbach im "Luginsland" besucht.
Paul Anselm Ritter von Feuerbach war - neben
von Savigny in Preußen - der bedeutendste Jurist und
(liberale) Rechtstheoretiker und -reformer seiner Zeit. 1814 hatte er
das Bayerische Strafgesetzbuch verfaßt, hatte auch die
Abschaffung der Folter durchgesetzt, ehe ihn die ultrakonservative
Hofkamarilla in München aus dem Justizministerium als
Präsident an das Appellationsgericht in Bamberg, wenig später
nach Ansbach abschob. Einer der kompetentesten Menschen, die sich
intensiv mit Kaspar Hauser beschäftigt haben.
Dieser Feuerbach also - von dem man annehmen
darf, daß er im Verhören auch schwieriger Zeugen seine
Erfahrungen gehabt hat - berichtet über Kaspars sprachlichen
Ausdruck zum Zeitpunkt seines ersten Besuches, es habe der Findling die
wenigen Worte, die er sagen konnte, bestimmt und deutlich, ohne Stocken
oder Stammeln gesprochen. An eine zusammenhängende Rede sei bei
ihm jedoch nicht zu denken gewesen. Kaspars Sprache sei so dürftig
gewesen wie der Vorrat seiner Begriffe. Ein und dasselbe Wort habe er
häufig in den verschiedensten Bedeutungen gebraucht. Es sei
unerhört schwer gewesen, ihm etwas verständlich zu machen.
"Alles, was ich aus ihm herausbringen konnte, war ein so
kauderwelsches, verworrenes, unbestimmtes Zeug, daß ich, mit
seiner Sprechweise noch nicht vertraut, das meiste nur erraten, vieles
gar nicht verstehen konnte."
Und aus diesem Zeugen hat Binder die
detaillierte Gefängnisstory herausgeholt. Es darf vermutet werden,
daß Kaspar das meiste davon nicht positiv selbst formuliert
hat, daß man ihm vielmehr eigene Vermutungen - getragen von
herzlicher Anteilnahme an seinem Geschick - vorgelegt hat, Kaspar sie
dann bestätigt hat, bzw. man glauben zu müssen meinte, aus
irgendwelchen Worten eine Bestätigung herauslesen zu dürfen.
(Wir erinnern uns, daß Kaspar dazu neigte, zu echolalieren, also
Worte, die ihm ein Anderer vorsprach, die er aus dessen Rede
heraushörte, ein- oder mehrmals nachzusprechen).
Der Argwohn, es sei in dieser frühen
Phase dem extrem spracharmen Kaspar Hauser allzuviel (aber keineswegs
in Fälscherabsicht, vielmehr aus unkritischer
Distanzlosigkeit heraus) in den Mund gelegt worden, wird auch
nicht dadurch entkräftet, daß Kaspar später - als
er längst ordentlich zu sprechen gelernt hatte, ja sogar einen
passablen schriftlichen Ausdruck sich erarbeitet hatte - die
Binderschen Angaben durchaus bestätigte. Man weiß heute -
durch raffinierte Experimente im psychologischen Labor und durch
leidvolle Erfahrung aus Gerichtssälen - recht genau, in welch
großem Umfang selbst kritische Zeugen durch suggestive
Fragen zu beeinflussen sind, wie die Erinnerung an ein Geschehnis durch
nachträglich erhaltene Informationen verzerrt und verfälscht
werden kann.
(Man fragte Versuchspersonen, die im Film
einen Unfall mit einem blauen Auto gesehen hatten, ob es gelb gewesen
sei und erhielt einige Wochen später bei einer Nachbefragung die
Antwort, es sei grün gewesen - die Mischfarbe also von gelb und
blau. Oder: Läßt man die Augenzeugen eines Auffahrunfalles -
im Film - die Geschwindigkeit des auffahrenden Autos schätzen, so
hängt die Antwort ganz entscheidend davon ab, ob in der
Fragestellung von "sich berührenden" oder von "aufeinander
aufprallenden" Autos die Rede ist. Bei den Versuchspersonen dieser
Experimente nun handelt es sich um erwachsene, kritikfähige
Menschen, die mitten im Leben stehen; die in emotionsfreier
Atmosphäre Dinge zu sehen bekamen, die ihnen wohlvertraut waren.)
Hauser, der bei seinem Erscheinen fast
nichts von früher wußte und dieses Wenige noch dazu nicht
ausdrücken konnte, war beim Erwachen (Wiedererwachen?) seines
Verstandes, seiner Ausdrucksfähigkeit längst auf die
Bindersche Geschichte vom Kerkeraufenthalt fixiert. Zu fixiert, als
daß er sie noch aus kritischer Distanz heraus hätte
würdigen und sachgerecht modifizieren können.
EIN WENIG BILDUNG WIRD VERMITTELT
Es war die Bekanntmachung des
Nürnberger Bürgermeisters Binder auf scharfe
Mißbilligung der bayerischen Behörden gestoßen.
Gerügt wurde - nicht zuletzt von Gerichtspräsident von
Feuerbach - die große Voreiligkeit dieser Maßnahme, welche
eine ordnungsgemäße und kunstgerechte Verfolgung dieses
mysteriösen Falles sehr erschwere. Zwar versuchte man, die
Zeitungen, in denen die Bekanntmachung erschienen war, zu
beschlagnahmen, kam damit aber zu spät. Bald schon wurde die
Geschichte von Kaspar Hauser in der Binderschen Version durch Zeitungen
in ganz Europa (und selbst in Übersee) verbreitet. Es wurde darin
auch die Geschichte von Kaspars Verbringung nach Nürnberg
erzählt.
Eines Tages also kam ein Mann von
mittelgroßer Statur in Kaspars Einsamkeit, war einfach da. So
wenig wie Kaspar sein Verschwinden registriert hat, so wenig weiß
er von einem Eintreten des Mannes zu berichten. Mit einem Male war er
da. Punkt.
Nie zuvor war er eines menschlichen - ja
eines lebendigen - Wesens ansichtig geworden, hatte als Welt nur sich
selbst und die kümmerliche Umwelt seines Kerkers erfahren. Dennoch
- und auch dieser Umstand verdient als zweifelweckende
Merkwürdigkeit festgehalten zu werden - nimmt Kaspar diese
dramatische Erweiterung seines Weltbildes gelassen hin, erschrickt
nicht über den Eindringling, wundert sich nicht. Noch nicht
einmal Anstalten macht er, den so plötzlich Erschienenen
genau anzusehen; er blickt ihm bei insgesamt dreimaliger
Gelegenheit kein einziges Mal in's Gesicht. Als wenn es nie anders
gewesen wäre, läßt er es geschehen, daß der
plötzlich hinter ihm stehende Mann einen niedrigen Schemel vor ihn
stellt, einen Bogen Papier darauf ausbreitet, auf welchen er mit einem
Bleistift einige Buchstaben malt. Indem er zunächst Kaspars Hand
führt, später ihn selbständig kritzeln läßt,
lehrt er Kaspar, diese wenigen Buchstaben schließlich alleine
"schreiben" zu können. (Was er in Nürnberg dann ja auch mit
Bravour erledigte, als er auf der Polizeiwache seinen Namen schrieb.)
Es kommt dem Manne bei seinem pädagogischen Unterfangen Kaspars
große Freude an dieser Tätigkeit, am schwarzen Produkt auf
weißem Grund, sehr entgegen. Kaspar nämlich macht, als der
Mann längst wieder weg ist, mit Ausdauer Hausaufgaben,
übt sich selbständig im Schreiben, ohne dabei aber - wie
gesagt - eine Vorstellung von der Schrift, ja auch nur von Sprache zu
haben.
Einige Tage mochten vergangen sein, als der
Mann zurückkehrte. Diesmal legt er ein Buch (!) vor Kaspar hin,
deutet mit dem Finger auf eine Stelle im Euch. Er spricht Kaspar einen
Satz vor (vermutlich jenen mit dem Wunsche nach kavalleristischer
Ausbildung) und animiert ihn, diesen Satz nachzusprechen. Auch hier
erweist sich Kaspar als gelehriger Schüler beim Nachmachen von
(für ihn) sinnlosen Sachen.
AUS DEM KERKER IN DIE STADT
Abermals einige Tage später erscheint
der Mann zum dritten Male und diesmal wird es ernst für Kaspar.
Der Mann weckt ihn mitten in der Nacht, nimmt ihn huckepack auf den
Rücken und trägt ihn aus dem Verlies und zunächst einen
hohen und langen Berg hinan. Unter'm Tragen schläft Kaspar wieder
ein.
Sie gehen einen Weg, der Träger und
sein menschliches Paket, einen einsamen Weg. Kein Mensch begegnet ihnen
unterwegs, Häusern und gar Dörfern weichen sie aus,
wenngleich sie durchaus auf Sichtweite in ihre Nähe kommen.
Unterwegs bekommt Kaspar neue Kleidung verpaßt, lernt auch das
aufrechte Stehen und - obwohl ihm das ob der weichen Fußsohlen
sehr beschwerlich wird - das Gehen über 40 - 50 Schritt. Nach
Kaspars späterer Einschätzung kann der Weg in die Stadt nicht
länger als 2 Tage gedauert haben (was aber nichts besagt, da sein
Schlaf künstlich verlängert worden sein kann). Nach Binders
Darstellung zieht der Mann - dem Kaspar auch jetzt noch kein einziges
Mal in's Antlitz geblickt hat - in der Nähe von Nürnberg den
versiegelten Brief aus der Tasche, händigt ihn Kaspar aus und
erläutert ihm dann (dem sprachunkundigen Kaspar!) den
weiteren Weg nach Nürnberg hinein. Nach Kaspars späterer
Darstellung allerdings wurde er nach Nürnberg hineingeführt,
unmittelbar an den Unschlittplatz, wo ihn sein gesichtsloser
Führer dann, mit einigen Versprechungen auf Wiederkehr, stehen
läßt.
Niemand allerdings - Niemand! - hat Kaspar
und seinen Begleiter vor seinem offiziellen Auftauchen gesehen, noch
nicht einmal die Wachen an den Stadttoren. Und dies, obwohl eine
beträchtliche Summe für die Aufklärung des
Hauser-Rätsels ausgesetzt war, jedem Zeugen in Sachen Kaspar
Hauser darüber hinaus beträchtliche Publicity winkte.
VOM LAUTEN TURM AUF DIE STILLE INSEL
Kaspars Leben auf dem Luginsland war
für ihn keineswegs angenehm. Jeder, der wollte, hatte Zutritt zu
ihm, konnte den merkwürdigen Bub besichtigen, begaffen, durfte
wohl auch derbe Späße mit ihm treiben. Ein heilloser
Kontrast zu Kaspars extrem reizarmem Vorleben; heillos selbst dann,
wenn man die Geschichte vom Kerker mit Skepsis betrachtet. Das zu
Erwartende tritt dann erstaunlicherweise auch tatsächlich ein (ein
logischer Widerspruch, dieser Satz, der aber psychologisch
durchaus einen Sinn macht. Ähnliche Mechanismen menschlicher
Verdrängung des Unangenehmen sind auch - z. B. - beim Thema
"Waldsterben" zu beobachten): Kaspar wird krank, ein heftiges
Nervenfieber packt ihn und Freiherr von Feuerbach wagt die Prognose, es
würde Kaspar binnen kurzer Frist sterben oder wahnsinnig werden,
wenn er nicht schleunigst in andere, private Umgebung käme.
Der Magistrat hat ein Einsehen und Kaspar
wird dem - wegen Kränklichkeit in den Ruhestand versetzten -
Gymnasialprofessor Georg Friedrich Daumer (damals 28 Jahre alt) zur
Pflege anvertraut. (Der kränkliche Daumer wird dann immerhin noch
75 Jahre alt.) Bis zum Januar 1830 bleibt Kaspar bei Daumer.
Dieser Daumer war keineswegs ein Plattkopf,
ein gebildeter und vielseitig interessierter Mensch vielmehr. Von
humanistischer Denkungsart war er ein Anhänger der damals
gerade aufgekommenen Homöopathie, liebäugelte wohl auch ein
bißchen mit dem Okkultismus, schrieb Gedichte (etliche davon hat
später Brahms vertont). Daumer war ein Junggeselle, lebte mit
seiner Mutter und seiner ebenfalls unverheirateten Schwester in
einem verwutzelten Häuschen auf der Insel Schütt in der
Pegnitz (mitten in Nürnberg allerdings, um von vornherein
irgendwelche Vorstellungen von wildromantischer Einsamkeit zu
zerstreuen). Kaspar wird - versteht sich - zum Objekt
homöopathischer Experimente, erlebt aber auch menschliche
Wärme und Anteilnahme und findet in Daumer einen kompetenten
Lehrer für alle Künste menschlicher Zivilisation.
ZÄHER SPEICHEL, TIEFE KNIE
Kaspars neues Leben hinterlaßt
deutliche Spuren in seinem Antlitz. Während sein Ausdruck anfangs
als "sehr gemein" und, wenn es in Ruhe war, "fast als ohne Ausdruck"
geschildert wurde, was ihm ein "fast tierisch stumpfes Aussehen"
verlieh, so ist er nach wenigen Monaten "kaum wiederzuerkennen". Von
Feuerbachs früher Wunsch, man möge doch von Kaspar eine
Porträtzeichnung anfertigen lassen, wurde nicht erfüllt, so
daß die Nachwelt die dramatische Veränderung seiner
Physiognomie nicht mehr nachvollziehen kann. (Das bekannte Bild
Kaspars mit dem Brief in der Hand - siehe Titelbild RM 12/83 -
vermittelt angeblich keinen rechten Eindruck von seinem Gesicht.)
Zu "Luginslands" Zeiten war Kaspars Speichel
von ungewöhnlich zäher Beschaffenheit gewesen; in
solchem Maße klebrig, daß er Bilder - die ihm von den
Besuchern geschenkt worden waren - dadurch an die Wand kleben
konnte, daß er einfach mit der Zunge darüberfuhr. Beim
späteren Abziehen blieben regelmäßig Teile des Papiers
an der Wand haften.
Eine weitere körperliche
Absonderlichkeit wurde bei Kaspar von mehreren untersuchenden
Ärzten konstatiert: seine Kniescheibe lag bei ausgestrecktem
Unterschenkel in einer beträchtlichen Vertiefung, statt, wie
üblich, etwas hervorzutreten. Wenn er mit ausgestreckten
Beinen auf dem Boden saß, so ging unter seiner Kniescheibe kaum
noch ein Blatt Papier durch, so fest und dicht lagen die Kniekehlen auf
dem Boden an. Wenn dies keine angeborene Fehlbildung der Beine war -
Orthopäden könnten hier Auskunft geben -, so würde
dieser Umstand die Annahme stützen, daß Kaspar doch lange,
sehr lange Zeit in der beschriebenen hockenden Haltung zugebracht
hat. Und wenn diese Fehlbildung erworben war, dann muß er sie zu
einer Zeit erworben haben, als seine Knochen noch weich und formbar -
also kindlich jung - waren.
SCHARFE SINNE MIT MAGNETISMUS
Seine sämtlichen Sinne sind in der
ersten Zeit von ganz bemerkenswerter Schärfe.
"Was das SEHEN betrifft, so gab es für
ihn keine Dämmerung, keine Nacht, keine Finsternis. Im
Dämmerlicht sah er sogar weit besser als am hellen Tage." Was
seine Ursache darin gehabt haben dürfte, daß er sehr
lichtempfindlich war, am hellen Tage ihn also die Überfülle
des Lichtes blendete. Feuerbach berichtet unter anderem, daß
Kaspar, bei Gelegenheit sorgfältig mit ihm angestellter Versuche,
in völliger Nacht Farben, selbst verschiedene dunkle Farben, wie
grün und blau, voneinander unterscheiden konnte. Auch beim Sehen
in die Ferne vermochte er Einzelheiten zu erkennen, die einem
unbewaffneten Auge normalerweise verborgen bleiben.
Gleiches wird vom GEHÖR berichtet. Aus
sehr großer Entfernung konnte er bei einem Spaziergang die
Tritte mehrerer Wanderer hören, unterschied diese auch nach der
Stärke ihrer Tritte. Verständlich, daß ihn der
Lärm einer großen Stadt anfangs sehr peinigte.
Sein feiner GERUCHSSINN machte ihm am
meisten zu schaffen. Nahezu alle Arten von Gerüchen waren ihm
widerlich, verursachten ihm Unbehagen. Beim Spaziergang über die
Felder wurde ihm oft schlecht vom starken Geruche der blühenden
Felder. Von einer in etlicher Entfernung geöffneten Weinflasche
wurde er beschwipst; Friedhöfe mied er, weil ihn der Totengeruch
gar zu unangenehm berührte.
Wer weiß, daß der GESCHMACK
meist aus Geruch besteht, wundert sich nicht, daß Kaspar auch mit
allerlei Speisen seine liebe Not hatte. Ganz allmählich nur - in
sehr langsam sich steigernden Verdünnungen - vermochte man ihm
andere Kost als Wasser und Brot attraktiv zu machen. Besonderen Abscheu
hatte er vor Fleisch und Gewürzen aller Art. Mit einer Ausnahme:
eine Mischung aus Kümmel, Koriander, Anis und Fenchel, mit welchem
sein Brot versetzt war. Es sei auch seine gewohnte Gefängniskost
mit dieser Mischung versetzt - bzw. bestreut - gewesen. (Alternative
Brotbäcker haben mich aufgeklärt, daß dies eine
althergebrachte und früher gar nicht seltene
Brotwürzmischung sei.)
Das Merkwürdigste aber war wohl Kaspars
Empfänglichkeit für MAGNETISMUS, den er fühlen konnte,
wie in ausgeklügelten (und mißtrauischen) Experimenten
nachgewiesen wurde. "Hielt Prof. Daumer den Nordpol gegen ihn, so griff
Kaspar in die Gegend der Herzgrube und zog seine Weste auswärts,
indem er sagte so ziehe es ihn, es gehe wie ein Luftzug von ihm aus.
Der Südpol wirke weniger stark auf ihn, und er sagte von ihm: er
wehe ihn an." Selbst bei Experimenten, bei denen man ihn bewußt
zu täuschen suchte, konnte er stets den magnetischen Nordpol vom
Südpol unterscheiden. Er konnte sogar, an der Verschiedenheit und
Stärke des Zugs, den die Metalle auf seine Fingerspitzen
ausübten, unterscheiden, aus welchem Stoff und von welcher
Form die Gegenstände waren, die unter einem Bogen vor ihm
verborgen lagen.
Im Laufe des Jahres 1828 verlor sich diese
Überempfindlichkeit Kaspars bis hin zum nahezu völligen
Verschwinden. Seine Sinne wurden stumpf, vor allem seit er an
Fleischkost gewöhnt worden war, wie Dr. Preu in seinem
ärztlichen Gutachten schrieb. Bevor die Vegetarier nun aber
zu heftig und freudig aufschreien, sei zu bedenken gegeben, daß
die Fleischkost keineswegs die Ursache seiner
Abstumpfung zu sein braucht, vielmehr beide Entwicklungen schlicht
parallel liefen, zu gleicher Zeit stattfanden und nicht das Eine aus
dem Anderen folgte. An Fleischkost konnte man ihn schließlich
erst gewöhnen, als sein Geschmacks- und Geruchssinn schon
weitgehend zu einem Normalmaß zurückgefunden hatte.
DIE SCHULE DES SEHENS
Vorhin war von Kaspars enormer
Scharfsichtigkeit die Rede gewesen, welche auch winzige Einzelheiten
noch in der Ferne wahrzunehmen vermochte. Als Feuerbach Kaspar
erstmalig auf seinem Turm besuchte, bat er ihn, doch einmal aus dem
Fenster zu sehen und die wundervolle Aussicht auf die sommerliche
Landschaft zu genießen. Kaspar tat ihm den Gefallen, fuhr aber
sogleich mit dem Ausdruck großer Abscheu wieder zurück. Drei
Jahre später fragte ihn von Feuerbach nach diesem Ereignis und
Kaspar erklärte ihm: "Wenn ich nach dem Fenster blickte, sah es
mir immer so aus, als wenn ein Laden ganz nahe vor meinen Augen
aufgerichtet sei, und auf diesem Laden habe ein Tüncher seine
verschiedenen Pinsel mit weiß, blau, grün, gelb, rot, alles
bunt durcheinander, ausgespritzt. Einzelne Dinge darauf, wie ich
jetzt die Dinge sehe, konnte ich nicht erkennen und unterscheiden."
Lange Zeit vor Feuerbach hat ein Chirurg
namens Cheselden eine ähnliche Beobachtung gemacht, als er
nämlich einem jungen Mann, der von Geburt an blind gewesen
war, den Star genommen hatte. Auch dieser Blinde mußte erst in
langwieriger Übung lernen, ganz normal zu sehen. Er mußte
Dinge berühren können, im Raum umhergehen, um allmählich
- indem er seine übrigen Sinneserfahrungen mit dem Bild auf der
Netzhaut in Zusammenhang brachte - aus den Farbflecken im
Hirn ein geordnetes sinnvolles Bild zusammensetzen zu können.
Recht besehen, könnte dieser Umstand
ein Indiz für die Richtigkeit der
Kerkergeschichte sein. Er zeigt auch, daß Binder seinerzeit beim
Verfassen seiner Bekanntmachung recht voreilig gewesen war, als er
davon gesprochen hatte, Kaspar sei auf seinem Weg nach Nürnberg
mehrfach in Sichtweite von Häusern und Dörfern gekommen.
VON DER MÜHE, DIE WELT ZU ORDNEN
Wie dies ähnlich auch bei Kindern zu
beobachten ist, vermochte Kaspar anfangs nicht zwischen lebenden Wesen
und toter Materie zu unterscheiden. Er spricht mit
dem Ofen in seinem Zimmer, mit dem Brot, hält hölzerne Pferde
für ebenso lebendig wie die richtigen Rösser. Als er in einer
Kirche ein Kruzifix sieht, ist er zu Tode erschrocken, bittet
inständig, man möge den armen Mann doch aus seiner
mißlichen und - am Ausdruck erkennbar - schmerzhaften Lage
befreien. Bewegte Objekte - z. B. rollende Kugeln - hält er
für lebendig, glaubt, es müsse diese Bewegung aus den
Objekten selber kommen. (Bei Naturvölkern ist Ähnliches zu
beobachten.) Erst durch längere, persönliche Erfahrung kann
er vom Gegenteil überzeugt werden.
Zwischen Tieren und Menschen macht er keinen
anderen Unterschied als den der verschiedenen Gestalt, glaubt beide von
gleicher Art; die Katze möchte er vom Gehen auf zwei Beinen
überzeugen, Pferden vermerkt er es übel, daß sie
einfach auf die Straße scheißen, anstatt, wie er selber,
ordentlich den Abtritt aufzusuchen. Vom organischen Wachsen hat er
lange Zeit überhaupt keine Vorstellung, hält alle Dinge
für von Jemandem gemacht; die Blätter an den Bäumen z.
B. müsse wohl irgend jemand daran befestigt haben.
Träume gar waren für ihn eine
gänzlich neue Erfahrung, die er in seinem Verlies entbehren
mußte. Folgerichtig hat er seine liebe Not, Traum und
Realität ordentlich auseinander zu halten, hält lange
Zeit Geträumtes für tatsächlich Erlebtes. Auch hiervon
kuriert ihn nur dauernde persönliche Erfahrung.
VERDÄCHTIGE FORTSCHRITTE
So primitiv - und eigentlich gar nicht
vorhanden - sein anfänglicher Wortschatz ist, so rasche
Fortschritte macht er gerade auf diesem Gebiet. Im November 1828
beginnt er seine Memoiren zu schreiben, ein Vierteljahr später
schreibt er schon recht ordentlich. Er geht hierbei sehr handwerklich
vor, überarbeitet den Text immer wieder, bis er ihn zu befriedigen
vermag. (Es möchte so mancher Schmierant heutiger Zeit sich dies
zur Mahnung nehmen.) Eine kleine Kostprobe: "Ich stand eine Zeitlang an
der nämlichen Stelle, an welcher mich der Mann verlassen hat, bis
derjenige Mann meinen Brief abnahm und mich in das Haus des
Rittmeisters brachte. Als ich in dem Hause ankam, empfand ich von einer
starken Stimme, die ich dort hörte, heftige Schmerzen in dem Kopf.
Der Bediente setzte mich auf einen Stuhl und suchte mich auszufragen,
doch ich konnte nicht mit andern Worten antworten, als mit denjenigen,
die ich gelernt hatte und die ich ohne Unterschied gebrauchte, um
Müdigkeit und Schmerzen auszudrücken." Und wiederum ein
Vierteljahr später weiß er sein einjähriges Hiersein
ganz artig zu bereimen:
Mein erstes
Jahr begrüß ich heut
In Dank und
Liebe hocherfreut,
Von vieler
Noth und Last gedrückt,
Von heute an
genieß ich was mein Herz entzückt,
Und fühl
auch jetzt mich neu beglückt...
Gar nicht schlecht für Jemanden, der
vor Jahresfrist noch ein lallender Idiot gewesen war.
Bald auch vermag er hervorragende Bilder zu
zeichnen, Aquarelle zu malen (siehe rm 12/83, S. 14); in so guter
Technik jedenfalls, einen öden Krakler wie mich vor Neid erblassen
zu lassen.
Es sind diese Fortschritte so groß und
sind so rasch aufgetreten, daß längeres Nachdenken
darüber wohl angebracht erscheint. Mit dem Umstande, daß
Kaspar mit gereiftem Körper und entwickeltem Gehirn an den Start
ging, vor dem sich entwickelnden Kleinkind also einen Vorteil hatte,
läßt sich diese enorme Beschleunigung jedenfalls nicht
zur Gänze erklären. Der Verdacht liegt nahe, daß Kaspar
in Nürnberg nichts Neues gelernt hatte, vielmehr bereits
Erlerntes, Verschüttetes wieder lernte. Welche Vermutung die
weitere Frage nach dem Mechanismus dieses Wissensverlustes
provoziert.
Seit etlichen Jahren schon gibt es
Hauser-Forscher, welche sich in die Hypnose-Theorie festgebissen haben.
Es sei, so meinen sie, bei Kaspar Hauser mittels Hypnose eine
künstliche Amnesie (Gedächtnisverlust) erzeugt worden, man
habe ihm suggeriert, er sei in die Zeit frühester Kindheit
zurückgefallen (Regression). Einige Zeit habe man ihn dann
tatsächlich im Kerker gehalten. Vor seiner Aussetzung habe
man ihm einen posthypnotischen Block suggeriert, welcher seinem
Gedächtnis die Zeit vor seinem Kerkeraufenthalt unzugänglich
gemacht habe. Im Traum, wo auch die hypnotische Zensur nicht immer
funktioniert, hat Kaspar mehrfach von einem Schloß geträumt,
von einem Wappen (zu einer Zeit, als er noch nie ein Schloß in
Nürnberg von innen gesehen haben konnte).
Was immer dran ist: diese Hypothese ist
wahrscheinlicher als die für bare Münze genommene Kerkerstory
des Bürgermeisters Binder.
EIN ATTENTAT
Mehr und mehr findet Kaspar seinen Platz in
der Daumerschen Idylle. Er lernt mit Eifer und großer
Wißbegierde, macht enorme Fortschritte auf vielerlei Gebieten.
Seine ungewöhnlichen Sinnesleistungen bilden sich, je länger
er dem normalen Reizpegel ausgesetzt ist, mehr und mehr zurück. Er
wird zu einem fast normalen jungen Mann, nicht ganz so schlau wie die
Meisten, nicht so kräftig und geschickt, immerhin aber ein artiger
Zeichner und Reimer und guter Reiter dazu. Das Rätsel seiner
Herkunft ist so wenig gelöst wie zu Beginn. Die
Öffentlichkeit beginnt, ihr Interesse an diesem
merkwürdigen Findling zu verlieren, der Alltag geht auch in
Nürnberg wieder seinen Gang. Kaspar indes kommt in eine
pädagogische Wachstumskrise. Seine Wißbegierde schwindet,
das Lernen fällt ihm immer schwerer. Er klagt über ein
Gefühl eines schweren Druckes auf seine Stirn, welches ihn stark
belastet. Regelmäßiger Unterricht ist kaum noch
möglich.
Wir erinnern uns kurz an die Hypothese vom
Wiedererlernen der durch Hypnose verlernten Fähigkeiten. Es
könnte - im Rahmen dieser Hypothese - spekuliert werden, daß
Kaspar nunmehr den alten Stand des Wissens wieder erreicht hatte,
daß er ab jetzt tatsächlich Neues lernt. Es
könnte auch der hypnotische Block in Bedrängnis geraten sein,
das alte Gedächtnis vor dem Durchbruch gestanden haben. Der Druck
im Kopf machte dann einen Sinn; denken Sie bloß mal an den
eigenen Stress, wenn etwas quasi auf der Zunge liegt, partout aber
nicht raus will aus dem Hirn.
All dies ändert sich schlagartig, als
am 17. 10. 1829 ein Mordanschlag auf Kaspar Hauser verübt wird,
mitten im Hause Daumer. Kaspar hatte sich in geschäftlichen
Angelegenheiten auf den Daumerschen Abtritt zurückgezogen, als ihm
die besinnliche Ruhe des Stuhlgangs jäh gestört wurde. Ein
Mann, ein großer schwarzgekleideter Mann, reißt die
Klotür auf und versetzt Kaspar einen Hieb quer über die
Stirn, mit einem Instrument, das nach Kaspars Schilderung (und
Zeichnung) ein merkwürdiges Mittelding aus Rasiermesser und
Fleischerbeil gewesen sein muß. Kaspar erleidet eine lange,
heftig blutende Wunde an der Stirn, die sich aber bald als relativ
harmlos herausstellt. Dieser Umstand und das nunmehr wieder zur alten
Heftigkeit angewachsene Interesse der Öffentlichkeit ließen
bald schon den Verdacht aufkommen, es sei das ganze Attentat nur ein
plumper Bluff Kaspars gewesen um wieder in's Gerede und in die
Schlagzeilen zu kommen.
Leute, die Kaspar persönlich kannten,
halten wiederum dies für Unfug: es habe Kaspar viel zu viel
Schiß gehabt, zuviel Angst vor körperlichen Schmerzen, als
daß er solch ein Wagnis auf sich genommen hätte. Der
Nürnberger Magistrat jedenfalls sah sich veranlaßt, Kaspar
künftig einen Leibwächter mitzugeben.
Das Attentat zeitigte weitere Folgen: der
Druck auf die Stirne war mit einem Male weg, die alte
Wißbegierde, der Lerneifer stellte sich wieder ein. Und: Kaspar
reagiert wieder auf Magnetismus, ein Teil der alten
Hypersensibilität war erneut zu beobachten.
Möglicherweise - um nochmal auf die
Hypnose zurückzukommen - hat die im Attentat liegende Drohung (das
Attentat sollte offensichtlich nicht töten) den
hypnotischen Block wieder stabilisiert; für einige Zeit.
KAUFMANN, FREIHERR, LORD
Kaspars Aufenthalt in der verwinkelten
Idylle der Daumers erschien nicht mehr hinreichend sicher. So also kam
Kaspar im Januar 1830 ins Haus des Nürnberger Kaufmanns Biberbach,
nachdem zuvor Freiherr von Tucher zu Kaspars amtlichem Vormund bestellt
worden war. Der Aufenthalt dort ist für beide Seiten nicht sehr
erquicklich. Der erfolgreiche Kaufmann ist oft auf Reisen, kann sich
Kaspar also kaum widmen. Seine Frau versucht dies umso mehr, sie stellt
ihm sexuell nach, was wiederum den in diesen Dingen noch recht
kindlichen Kaspar sehr verdrießt. Als ihn schließlich Frau
Biberbach beim Magistrat als "entsetzlich lügenhaft" denunziert,
nimmt ihn im Mai 1830 sein Vormund in sein eigenes Haus auf. Kaspar
richtet sich bald und gut in diesem allervornehmsten Hause zu
Nürnberg ein, bewegt sich gewandt und wohlerzogen in der guten und
besten Gesellschaft. Der Handkuß geht ihm so locker von der Zunge
wie irgendeine alberne Salon-Schmeichelei.
Im Mai 1831 nimmt Lord Philipp Henry
Stanhope zum zweiten Male Aufenthalt in Nürnberg. Beim ersten
Besuch hatte dieser Bilderbuch-Brite - groß, hager,
reiselustig ("Sir David Lindsay"! rufen jetzt die Karl-May-Kenner;
"genau", murmle ich) - von Kaspar Hauser keinerlei Notiz genommen,
obwohl dieser gerade damals - es war im Oktober 1829 - wegen des
Attentats in aller Munde gewesen war. Nun aber bemüht sich der
Lord mit auffallender Emphase und Hartnäckigkeit um den
Salon-Findling. Er macht ihm Geschenke, teure Geschenke und beginnt
einen - aus heutiger Sicht - reichlich schmalzig-empfindsamen
Briefwechsel mit ihm. In Nürnberg beginnt man bald schon über
das seltsame Paar zu tuscheln, das man oft auf gemeinsamen
Ausflügen und Unternehmungen sehen kann. Trotzdem kann Stanhope im
November 1831 seine gerichtliche Bestellung zum Vormund Kaspar
Hausers durchsetzen.
Im Dezember 1831 übersiedelt Kaspar auf
Stanhopes Wunsch nach Ansbach, wo er bei der Familie des Lehrers und
Organisten Johann Georg Meyer wohnt. Lord Stanhope verläßt
am 19. Januar 1832 Ansbach und kehrt nie wieder zurück. Seine
Lordschaft verpißten sich. Zwar schrieb er weiter eine Menge
empfindsamer (ein irgendwie unheimlich geiles Wort damals) Briefe an
Kaspar, versprach auch mehrmals, Kasparn heimzuholen auf das
Schloß seiner (Stanhopes) Ahnen, beließ es aber dabei. In
einem der Briefe etwa schrieb er: "Die Empfindungen, die du mir
schilderst, haben mich unendlich erfreut, und ich schätze mich
sehr glücklich, daß ich deine Zufriedenheit und dein
Wohlsein, mein geliebter Pflegesohn, befördert habe. Ganz
gewiß weiß ich, daß ich deine Liebe und
Freundschaft, die mir so sehr das Leben versüßen, immer
genießen werde, wie auch, daß ich niemals aufhören
werde, sie zu verdienen, und dein Glück wird immer das meinige
vermehren. Später übrigens - Kaspar Hauser war noch keine 14
Tage tot - wurde Lord Stanhope einer der eifrigsten "Entlarver"
Kaspars, darin unterstützt von J. G. Meyer. Er gab eine
Dokumentation heraus, in welcher er nachzuweisen suchte, es sei dieser
von ihm innig als Sohn geliebte Kaspar nichts weiter als ein gemeiner
Betrüger gewesen.
Kaspar jedenfalls blieb in der Obhut des
pedantischen und engstirnigen Pädagogen zurück. Er verkehrt
auch in Ansbach locker in der feinen Gesellschaft, Anselm von
Feuerbach verschafft ihm eine Stelle als Schreiber am
Appellationsgericht.
DER MORDANSCHLAG
Am 14. 12. 1833 um 9.00 Uhr morgens wird
Kaspar auf den Stufen zum Gericht angesprochen. Der Mann richtet ihm
schöne Grüße vom Hofgärtner aus, dieser lade ihn
ein, heut nachmittag so gegen 3.00 Uhr in den Hofgarten zu kommen. Dort
werde er ihm die verschiedenen Arten von Ton zeigen, die bei der
Ausschachtung für einen Artesischen Brunnen angefallen seien.
Zur angegebenen Zeit findet sich Kaspar
tatsächlich im Hofgarten ein, der um diese Stunde, der
naßkalten Witterung wegen, von Spaziergängern verlassen ist.
Nur ein Mann ist da, groß, mit schwarzem Backen- und Schnurrbart,
welcher Kaspar am Denkmal des Dichters Uz erwartet. (Ohne diesen
Umstand würde diesen bedenkmalten Lokaldichter Uz heute kein
Mensch außerhalb Ansbachs mehr kennen. Es ist schon von einiger
Ironie, auf welche Weise man schließlich doch noch unsterblich
werden kann.) Der Mann tritt auf Kaspar zu, reicht ihm einen Beutel aus
violettem Samt; Kaspar greift danach und in diesem Augenblick
stößt ihm der Mann ein Messer durch alle dicke
Winterkleidung hindurch tief in die Brust. Der Mörder flieht,
Kaspar jagt in panischem Schrecken aus dem Hofgarten hinaus, läuft
zu Lehrer Meyer. Meyer, der die Verwundung für die - harmlose -
Folge eines von Kaspar selbst inszenierten Schau-Attentats hält,
will mit ihm zum Tatort zurückgehen. Auf dem Weg dorthin aber
bricht Kaspar doch noch zusammen. Dem herbeigerufenen Arzt Dr.
Heidenreich genügt eine oberflächliche Untersuchung um die
Wunde als lebensgefährlich zu diagnostizieren.
Die Polizei- und Justizbeamten, die Kaspar
auf dem Totenbett verhören, teilen Meyers Skepsis. Auch sie haben
erhebliche Zweifel an Kaspars Geschichte.
Am Tatort findet man am selben Tage noch
jenen Beutel, von dem Kaspar gesprochen hatte. In dem Beutel liegt ein
Zettel, auf dem in Spiegelschrift (und nicht in
Kaspars Handschrift) geschrieben steht:
Abzugeben
Hauser wird es euch ganz
genau erzählen können, wie
ich aussehe, und woher ich bin.
Dem Hauser die Mühe zu ersparen
Ich komme - - - - - - -
Ich komme von von - - - -
der Baierischen Gränze - - -
Am Fluß - - - -
Ich will auch sogar noch den
Namen sagen: M. L. 0.
(Spiegelschrift ist übrigens recht
einfach zu erzeugen: man schreibt mit der linken Hand von rechts nach
links, denkt dabei an Normalschrift und läßt die linke Hand
einfach laufen. Es wird von selber Spiegelschrift daraus. Allerdings:
bei Rechtshändern sieht dies recht kraklig und unbeholfen aus;
Linkshänder tun sich sehr viel leichter - siehe Leonardo da Vincis
"Geheimschrift". Das Lesen des selbst Geschriebenen ist dabei sehr viel
schwieriger - wenn nicht zur Gänze unmöglich - als das
Schreiben selbst. Erst wenn man das Blatt umgedreht gegen das
Licht hält, sieht man, daß man doch was Vernünftiges
geschrieben hat.)
Zwei Jahre später findet man unweit des
Tatorts einen fest in die Erde gerammten Dolch, der dort schon
längere Zeit gesteckt haben muß. Der Dolch paßt in
seinen Maßen recht genau in die tödliche Wunde Kaspars.
Am 17. 12. 1833 erliegt Kaspar Hauser seinen
Verletzungen.
K. H. - EIN COUSIN DES WALHALLA-WIGGERLS?
Das war's. Das war in etwa die Geschichte
von Kaspar Hauser, die wir wissen. Der Rest ist - weiß Gott' -
nicht Schweigen, vielmehr eine Flut von Publikationen zu diesem
Thema, wovon die meisten es nicht bei einer Schilderung seines Lebens
bewenden lassen, vielmehr mit Scharfsinn, großem Fleiß und
auch etlicher Wichtigtuerei versuchen, das Rätsel Kaspar Hauser zu
lösen. Ein gefundenes Fressen für
Schreibtisch-Detektive. (Ich will mich gar nicht lustig machen; es ist
wirklich ein faszinierendes Spiel.)
Nahezu alle Theorien gehen davon aus,
daß die in Hausers Begleitschreiben dargelegte Geschichte vom
armen Mägdlein und vom kinderreichen Taglöhner nicht stimmen
kann (aus den bereits skizzierten Gründen).
Die älteste und bis heute beliebteste
Theorie geht davon aus, daß Kaspar Hauser in Wahrheit ein
angeblich toter Erbprinz aus dem Hause Baden sei, den man aus
Thronfolgegründen aus dem Weg geräumt habe. Schon kurze Zeit
nach Binders Bekanntmachung war ein anonymer Brief aus Karlsruhe
in Nürnberg eingetroffen, in welchem ebendies behauptet wurde. Dem
Hinweis wurde, eben weil er anonym war, nicht nachgegangen. Anselm von
Feuerbach schließlich hat im Frühjahr 1832 in einer geheimen
Schrift an die Königinmutter Karoline von Bayern (die aus dem
Hause Baden stammte und - im Falle Feuerbachs These stimmte - die
leibliche Tante von Kaspar Hauser gewesen wäre; ihr Sohn Ludwig I.
wäre dann der Cousin des Nürnberger Findlings gewesen.) diese
These ausführlich begründet. Feuerbach ist übrigens im
Mai 1833 sehr plötzlich verstorben; sein Sohn Ludwig (der
Philosoph) war überzeugt, sein Vater sei einem Giftanschlag zum
Opfer gefallen, nachdem er die Prinzenschaft Kaspar Hausers entdeckt
habe.
LITERATUR ZUM THEMA KASPAR HAUSER:
0. Flake |
Kaspar Hauser - Vorgeschichte, Geschichte, Nachgeschichte,
Mannheim, 1949 |
J. Hörisch
(Hrsg.) |
Ich
möchte ein solcher werden wie.... - Materialien zur
Sprachlosigkeit des Kaspar Hauser (nicht
vom albernen Titel schrecken lassen; es sind nur Materialien zum
Leben von K. H., Gottlob! Das Nachwort von Hörisch ist
verschmockter Schmonzes, man muß es aber nicht lesen). Suhrkamp-Taschenbuch, stw 283 |
F. Klee |
Neue Beiträge zur Kaspar-Hauser-Forschung,
Nürnberg 1929 |
K. Kramer |
Kaspar Hauser - Kein Rätsel unserer Zeit, Ansbach,
1978 |
H. Pies |
Kaspar Hauser - Eine Dokumentation, Ansbach. 1966 |
H. Scholz |
Kaspar Hauser, Protokoll einer modernen Sage |
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