Wie Gott in die Welt kam und warum er blieb
Am 24. 12. 2009, pünktlich zu Weihnachten,
war in der Süddeutschen Zeitung
unter dem Titel "Der
Gottesinstinkt" ein Artikel erschienen, in dem eine
wissenschaftliche
Theorie über die Entstehung der Religionen referiert wurde.
Vor etwa 73.000 Jahren
- heißt es dort - sei auf der Insel Sumatra der Supervulkan
Toba explodiert,
habe Feuer, Asche und Gift emporgeschleudert und dadurch einen langen
Winter
auf der Erde verursacht, der ein Massensterben auch bei den Menschen
zur Folge
gehabt habe.
Auf etwa die gleiche
Zeit ließen sich auch die allerersten Spuren menschlicher
Religiosität
datieren. Womöglich hätten die wenigen
übriggebliebenen Menschen unter den
extremen Lebensbedingungen dieser Epoche nur deshalb überlebt,
weil sie zu
neuen, besseren Formen der Kooperation gefunden hätten.
Diese
Kooperation sei gefördert worden durch ein neuartiges
religiöses Denken. In der großen Kälte der
Katastrophe hätten die Menschen zum
ersten Mal strafende Götter erdacht, die auf die Einhaltung
von Spielregeln
achteten. Religion sei also ein Produkt der biokulturellen Evolution. Daten, die Entwicklungspsychologen in
Kindergärten
des 21. Jahrhunderts erhoben hätten, belegten, daß
Glauben nicht etwas sei, was
man lernen müsse, sondern ein natürliche Bestreben
des Menschen - ein
angeborener Gottesinstinkt
sozusagen.
Das bedeutet, daß die Götter - später dann
der Eine und
Einzige Gott - Geschöpfe der Menschen wären, von
ihnen erdacht zu ihrem Nutz
und Frommen. Der Glaube an Gott oder Götter wäre
damit eine Form von
Autosuggestion, eine kollektive Wahnvorstellung.
In
unserer Zivilisation ist zwar seit dem Ende des
Mittelalters die Bedeutung der Religion immer weiter
zurückgegangen, weltweit
gesehen aber ist Religion immer noch ein Erfolgsmodell. Und auch bei
uns
spielen seit einiger Zeit Religionen und religionsähnliche
Gedankenmodelle wieder
eine stärkere Rolle. Die Welt, in der wir leben, erscheint uns
längst nicht
mehr so sicher und wohlgeordnet wie noch vor wenigen Jahrzehnten:
- Die Umwelt droht zu kippen.
- Die Wirtschaft ist ins Schleudern gekommen und
die
Aussicht auf Stabilisierung ist eher gering.
- Die lange Zeit von Europa und den USA
dominierten
Weltgegenden klopfen an unsere Tür und fordern ihr Recht.
Unsicherheit
breitet sich aus, Angst.
Angst
Die Angst aber
ist mit dem Menschen in die Welt gekommen, als
unvermeidliche Folge von Intelligenz.
Ein
Tier hat Furcht im Augenblick der Bedrohung. Ist die
Bedrohung noch nicht wahrnehmbar, so hat das Tier keine Furcht. Im
Gegensatz
zum Tier aber hat der Mensch, der mit Geist und Vorstellungskraft
begabt ist,
die Fähigkeit, auch vor Ereignissen Angst zu haben, die in der
Zukunft möglicherweise
eintreten könnten. Der
Mensch hat
Phantasie, er kann sich schreckliche Dinge vorstellen, er kann die
Wahrscheinlichkeit des Eintretens von schrecklichen Ereignissen
abschätzen und er
kann erkennen, daß er nicht vorhersehbaren, sinnlosen
Zufällen völlig hilflos
ausgeliefert ist.
Ein
äußerst probates Mittel gegen die Angst ist die
Religion. Durch die Erfindung übernatürlicher
Mächte bringe ich zum einen Sinn
in eine ansonsten sinnlose, von Zufällen beherrschte Welt. Die
Notbremse für
besondere Fälle, in denen sich partout kein Sinn auffinden
lassen will, ist mit
eingebaut: Gott wird sich schon was dabei gedacht haben, seine Wege
sind
unerforschlich.
Zum
anderen verleiht der Gedanke, einen übermächtigen (in
monotheistischen Religionen gar allmächtigen)
Gott über sich zu wissen, der sich um einen kümmert,
große Sicherheit in eine
äußerst unsichere Welt. Gott ist
gleichermaßen ein Beruhigungs- wie ein
Aufputschmittel.
Sinn
Gläubige
haben eine innere Kraft, die alles hinwegfegt, ihr
Glaube verleiht ihnen Kräfte, über die ein
Ungläubiger nicht verfügt. Der
Ungläubige hat nur dieses eine Leben, der Gläubige
dagegen weiß das
eigentliche, das richtige Leben noch vor sich. Dort wird er
für all die Mühsal
dieses Erdenlebens belohnt werden.
Nimm
einen Ordensangehörigen, der sein einziges Leben
wegwirft, um sich in einem Kloster oder einem Elendshospital zu
vergraben. Vom
Standpunkt eines Ungläubigen ist der verrückt,
für einen gläubigen, wirklich existentiell
gläubigen Menschen ist das jedoch eine durchaus lohnende
Sache: Sich läppische
70 Jahre hier durch das irdische Jammertal zu fretten, sich
dafür aber die
unendlich währende Seligkeit im Himmel zu erwerben.
Mutter
Teresa liefert eine für sie voll lohnende Nummer! Ebenso
der Moslem, der sich in die Luft sprengt und dann in Himmel kommt. Wenn
du
Mutter Teresa bewunderst oder den Selbstmordattentäter
irritiert betrachtest,
dann deshalb, weil du diese Glaubenspower nicht bringst, so tief und
existentiell wie diese glaubst du nicht. Wärest du so
gläubig wie sie, würde
dir unmittelbar klar, daß sie das große Los gezogen
haben. Die haben ihren
Plan: "Wie gestalte ich mir die Ewigkeit genußreich und
entspannend"
konsequent durchgezogen.
Wo
der vernünftige Fürst noch nachdenkt, ob er einen
Konflikt riskieren soll, hat der gläubige Fürst den
Krieg schon gewonnen, weil
ihm Gott selbst den Auftrag dazu erteilt hat. Gläubige sind
daher im
Zweifelsfall auch sehr viel skrupel- und bedenkenloser als
Ungläubige, denn sie
haben ein heillos gutes Gewissen, eine Gewißheit, an die der
Vernünftige niemals
auch nur rankommt.
Gott
befriedigt ein grundlegendes menschliches Bedürfnis
nach Sicherheit und Sinn.
Gotteserfahrung
Es sage jetzt
keiner, Gott sei eine völlig aus der Luft
gegriffene, jeglicher Erfahrung widersprechende Idee. Wir alle haben
den Lebendigen
Gott erlebt, haben seinem Wort gelauscht und seine Wunder gesehen!
Wir
saßen auf dem Stuhl und der Schnuller ist runtergefallen
und wir hatten keinerlei Möglichkeit, ihn wieder zu bekommen,
bis Mama oder
Papa kamen und ihn uns mit Leichtigkeit wieder zurückgaben.
Wir hatten Hunger und
wir froren und Vater und Mutter haben uns mit ihrer Macht, die all
unsere
Vorstellungen übertraf, Nahrung herbeigeschafft und die
Heizung eingeschaltet.
Lauter unglaublich phantastische Sachen, die wir selbst
unmöglich bewerkstelligen
konnten, noch auch nur im mindesten verstanden.
Und
eines Tages waren wir erwachsen, mündig und frei.
Schön.
Aber
wir waren damit auch für uns selbst verantwortlich und
haben gemerkt, daß wir viel, viel weniger bewegen
können, als wir eigentlich müßten,
um uns wirklich beruhigt zurücklehnen zu können. Ach,
wie schön wäre es jetzt,
wieder ein Kind zu sein und ein mächtiges Wesen über
uns zu haben, das sich um
uns sorgt. Dafür würden wir gerne unsere
Mündigkeit opfern und uns den Geboten
dieses mächtigen Wesens unterwerfen. Wenn jetzt ein so
gescheiter Mensch wie
der Prof. Ratzinger zu dir kommt und dir erzählt, es gebe sehr
wohl einen
Himmivatta da droben, der sich um dich kümmert, dann hat er
leichtes Spiel mit
dir.
Wir
hatten anfangs gesagt, Religion sei eine Form von Autosuggestion,
eine Wahnvorstellung. Wir müssen nun hinzufügen,
daß das Konzept Gott einen
erheblichen Evolutionsvorteil darstellt. Religiöser Glaube ist
eine Form von Wahnsinn,
gewiß, aber er ist ein ungemein
überlebensförderlicher Wahnsinn.
Wäre er das nicht, so hätten sich
Religionen längst aus der Evolution gemendelt.
Diese
Welt ist so verrückt, daß sie dem
Verrückten einen
erheblichen Überlebensbonus verleiht!
Widersprüche
Nach diesen
Überlegungen sollten wir uns eigentlich alle
darum bemühen, den verlorenen Glauben wiederzufinden.
Das
sollten wir, in der Tat. Nur - es geht nicht.
Wenn
ich mich hinsetze, nachdenke und dann zu dem Ergebnis
komme, daß es aus psychohygienischen Gründen
vernünftig wäre, an einen Gott zu
glauben, für dessen Existenz ich keinerlei Anhaltspunkte habe,
dann gerate ich
in eine sowohl logische als auch psycho-logische Zwickmühle.
Es ist wie mit dem
Einschlafen: Wenn du es willst, dann klappt es nicht. Schlaf und
religiöser
Glaube kommen entweder spontan oder sie kommen nicht.
Das
hört sich logisch an, ist aber natürlich Unfug von
hinten bis vorne.
Denn
siehe, es gibt Theologen, die erforschen im Auftrag
ihrer Kirche - auf dem Lehrstuhl für Vergleichende
Religionswissenschaft sitzend
- die Geschichte des Glaubens, des eigenen Glaubens und des Glaubens
der anderen.
Sie zeichnen mit großer Sachkunde und bewundernswerter
Akribie nach, wie sich
religiöse Vorstellungen in der Geschichte der Menschheit
entwickelt haben, wie
religiöse Motive und Gedanken von einer Kultur zur anderen
gewandert sind, wie
Glaubensinhalte - auch in der eigenen Religion - sich nach und nach
verändert
haben. Sie klappen den Laptop, mit dem sie all dies niedergeschrieben
haben, zu
und gehen in den Dom, um dort Gott, den sie eben noch als ein von
Menschen
gemachtes Phantom beschrieben haben, um seinen Beistand anzuflehen.
Glaube
ist ein tiefsitzendes menschliches Bedürfnis und
Verstand hilft nicht gegen Bedürfnisse.
Offenbarungsreligionen
Seit dem modernen
Menschen der Glaube an einen Gott und an ein Jenseits abhanden gekommen
ist,
stufen wir die Glaubensstärke von Menschen gerne in einer
Tabelle ab, vom
strenggläubigen Fundamentalisten über den nach
Glaubensreform rufenden
Modernisten bis zum Kirchensteuerheiden.
Die drei großen
monotheistischen Religionen - Judentum, Christentum und Islam - sind
aber keine
Baukastenreligionen, aus denen ich mir je nach Gusto eine Weisheit
hier, einen
Glaubenssatz da herauspicke, um mir eine private, kommode
Individualreligion
zusammenzubauen. Es sind Offenbarungsreligionen, ihr Glaubensinhalt ist
in
Heiligen Büchern festgelegt, an diesen Glaubenssätzen
läßt sich nicht deuteln.
Wem die Bibel Gottes Wort ist, dem muß sie es ganz sein. Wem
die Bibel nicht kompromißlos
Gottes Wort ist, mag ein ehrenwerter Mensch sein, ein Christ ist er
nicht.
- Da in
der Bibel homosexueller Geschlechtsverkehr verdammt wird, ganz
eindeutig
verdammt wird, muß sich der homosexuelle Christ, der seiner
sündigen Lust
nachgibt, im Stande der Sünde sehen. Das Recht, dieses Verbot
unvernünftig und
unmenschlich zu finden, hat er; aber er hat es nicht innerhalb einer
der
christlichen Religionsgemeinschaften. Punkt.
- Das
Wort des Apostels Paulus, das Weib habe in der Gemeinde zu schweigen,
steht und
gilt noch immer. Zwanglos ist daraus abzuleiten, daß Frauen
kein Priesteramt in
der Kirche ausüben dürfen. Ich finde jede Menge
Argumente gegen dieses Verbot
in der Vernunft. In der Bibel finde ich sie nicht.
An einer
Offenbarungsreligion ist nichts zu reformieren. Sie steht. Sie steht
entweder
ganz da oder gar nicht. Wer einen in den Heiligen Büchern
formulierten
Glaubenssatz aus ihr herausbricht, bringt das ganze Gebäude
des Glaubens zum
Einsturz.
Ich bin demnach
entweder ein strenggläubiger Fundamentalist oder ich stehe
bereits außerhalb
des Glaubens.
Änderungstheologen
Ich weiß auch, daß
diese Beschreibung von Religiosität nicht die empirische
Wirklichkeit
wiedergibt. Diese Wirklichkeit ist vielmehr ein rechtes Durcheinander.
Jeder
holt sich aus der Bibel, aus der Überlieferung, das heraus,
was ihm in den Kram
paßt und tut das andere achselzuckend als "irgendwie
merkwürdig" ab.
Die Kirchengeschichte ist der Beweis für die Geschmeidigkeit
im Anpassen an die
jeweiligen Bedürfnisse. Wenn die Religion irgendwann irgendwo
zwickt und zwackt
geht man halt zum Änderungstheologen und
läßt sie sich umdeuten. Dafür sind
diese Leute schließlich da. Fachkundig machen sie
den Glauben auf eine
geschmeidige Weise passend und behaupten die jeweilige Neuerung dann
als ehern
seiend und im Grunde immer schon vorhanden gewesen.
Eine liberale, den
Neuerungen aufgeschlossene Religiosität ist nichts weiter als
eine spirituelle
Lebensversicherung. Ein Zipfelchen vom Glauben behältst du in
der Hand, nur für
den Fall, daß es nach dem Tode doch ein Jenseits geben
sollte. Dann zeigst du
dein Zipfelchen vor, gibst es für ein ganzes Kleid aus und
hoffst, dich damit
in die Ewige Seligkeit zu mogeln.
Religiöse Menschen
in des Wortes eigentlicher Bedeutung sind Menschen, die sich ein Leben
ohne
Religion nicht einmal vorstellen können.
Als wirklich
religiöser Mensch bin ich religiös in einem
tief-existentiellen Sinn. Das
Transzendente existiert für mich so, wie das Butterbrot
existiert, von dem ich
abbeiße. Wenn Gott zu Abraham kommt und ihm sagt, er
möchte doch bitte so
freundlich sein und seinen Sohn schlachten, dann schultert Abraham das
Opferbesteck und macht sich, - seufzend, aber doch - auf den Weg. Das ist Religion und nicht das
Entwerfen und immer wieder neue Entwerfen von theologischen
Konzepten.