Die Gefahren des
Straßenverkehrs
Wie schnell kann sich ein Mensch aus eigener
Kraft bewegen?
Bei einem
Leichtathletik-Hallenturnier
laufen die 60-m-Sprinter nach dem Zieleinlauf eine steile Rampe
hinauf, um die enorme Geschwindigkeit, mit der sie durchs Ziel
gedonnert sind, abzubremsen. Am Ende der Rampe fängt
eine gepolsterte Wand die verbliebene Restenergie ab. Noch aus der
Distanz des Fernsehbildes ist zu erkennen, mit welcher
Wucht die Athleten, trotz Energieverlust durch die steile Rampe,
trotz eigener, heftiger Bremsbewegungen, gegen die dicken, weichen
Schaumgummimatten prallen.
Machen wir ein - absolut
unmoralisches -
Gedankenexperiment: Schicken wir einen Weltklassesprinter mit
verbundenen Augen auf die 100-m-Strecke, bauen wir dort, wo
normalerweise das Zielband weich und triumphierend nachgibt, eine
massive Ziegelwand auf. Was mag passieren, wenn der
ahnungslose Sportler mitten im vollen Lauf gegen die Wand
prallt?
Um unseres Seelenfriedens
willen, sollten
wir nicht allzuviel Phantasie in die grausigen
Konsequenzen unseres Experimentes investieren. Die
Chancen unseres Sportlers, den Aufprall zu überleben, sind -
soviel ist klar - nicht allzu groß.
Wie schnell läuft so ein
Spitzenathlet
eigentlich?
Wenn er die
100-Meter-Sprintstrecke in 10,0
Sekunden läuft, dann bringt er es - leicht
auszurechnen ‑ auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von
10 Metern pro Sekunde. Umgerechnet in eine dem
Autofahrer vertrautere Maßeinheit ergeben sich 36
Kilometer pro Stunde. Vom Start weg muß er erst
beschleunigen, so daß wir grob geschätzt davon ausgehen
können, daß er im Ziel eine
Höchstgeschwindigkeit von etwas mehr als 40
Kilometern pro Stunde haben wird.
40 km/h ist demnach die
höchste
Geschwindigkeit, die ein Mensch aus eigener Kraft, das heißt ohne
technische Hilfsmittel, erreichen kann. Aber selbst ein
guttrainierter Sportler erreicht diese Geschwindigkeit nur
sehr kurzfristig und im Falle optimaler Bedingungen, angefangen von
fleißigem, regelmäßigen Training über die
richtigen Laufschuhe bis zum HiTech-Belag der Laufbahn.
Und vor allem: Der Sprinter
erreicht diese
Geschwindigkeit nur deshalb, weil er darauf vertrauen kann, daß
ihm niemand in den Weg laufen wird. Die Aschenbahn ist abgesperrt.
Auf eine unvorhergesehene
Störung
könnte er bei diesem Höllentempo nicht mehr reagieren. Weder
rechtzeitig noch sinnvoll.
Ein
bißchen Fahrphysik
Der moderne Autofahrer ist es
nicht
gewöhnt, 40 km/h als „Höllentempo“ zu
bezeichnen. 40 km/h sind eine Geschwindigkeit, welche ein
Autofahrer eher als Schrittgeschwindigkeit einstuft, eine
Geschwindigkeit, mit der er mühsam diszipliniert durch
die 30 km/h-Zonen schleicht.
40 km/h ist aber auch in
etwa die
Geschwindigkeit, welche 1835 die erste deutsche Eisenbahn zwischen
Nürnberg und Fürth erreichte. Der legendäre
„Adler“ kam mit Waggons und Fahrgästen auf 36 bis
38 km/h. Die Fahrgäste von damals waren weit davon entfernt,
dieses Tempo als Schrittgeschwindigkeit zu empfinden. Sie wurden
zum großen Teil von heftiger Angst gepackt, viele schrien
panisch, manche wurden ohnmächtig.
Ein wohlmeinender und um seine
Mitmenschen
besorgter Journalist hatte damals - allen Ernstes - vorgeschlagen, man
möchte doch zu beiden Seiten der Eisenbahnlinie einen mehrere
Meter hohen Schutzwall aus Brettern errichten. Nicht, um die Menschen
vor der Lärmbelästigung zu schützen, sondern um den
Menschen - und Tieren! - entlang der Bahnlinie den Anblick der mit
wahnsinniger Geschwindigkeit dahinrasenden Bahn zu ersparen.
Wir, die wir als Babys schon im
Auto
herumgefahren worden waren, die wir ins Auto hineingewachsen sind,
lächeln heute über solche Berichte. Ein modernes Auto, auf
einer modernen Straße dahingleitend, vermittelt ja auch bei
noch weitaus höheren Geschwindigkeiten das Gefühl einer eher
gemächlichen Fortbewegung.
Und dennoch: 40 km/h ist
die
Geschwindigkeit, die ich nach einem Fall aus über 6 Metern
Höhe erreiche, aus dem zweiten Stock eines Hauses, immerhin.
Klar, daß der Sportler aus unserem Gedankenexperiment nach
dem Aufprall auf die Mauer nicht mehr gut aussehen würde. Wir
verstehen jetzt aber auch, warum er sich bei diesem Tempo schwer tut,
zu reagieren.
Ein lehrreiches Unfällchen
Welche ungeheuren Kräfte
bereits bei
sehr geringen Geschwindigkeiten freigesetzt wurden, hat mich ein -
gottlob harmlos verlaufener - Unfall gelehrt.
Es geschah zur abendlichen
Hauptverkehrszeit. Die eine und einzige Hauptstraße durch meinen
Wohnort war nahezu dicht. Stehender Verkehr mit Stop-and-Go, jeweils in
Schrittgeschwindigkeit und nur für wenige Meter. Vor mir in der
Schlange fuhren (aber Gott, was heißt schon „fuhren“
bei dieser Verkehrslage?) zwei Motorräder. Richtig große,
schwere Motorräder, gefahren von einem zu den Motorrädern
passenden Paar. Beide groß und mindestens stämmig,
wahrscheinlich schon dick. Die Kolonne ruckt wieder mal an, alle
Fahrzeuge fahren in Schrittgeschwindigkeit ein paar Meter weiter. Die
hintere Motorradfahrerin paßt einen Moment lang nicht auf
und bekommt zu spät mit, daß die Kolonne schon wieder
hält. Sie fährt auf das andere Motorrad auf.
Von der Wucht des Aufpralls
wurde die
Motorradfahrerin über die Lenkstange hinweg aus dem Sattel
gehoben. Sie kam zwar mit den Füßen auf dem Boden auf, war
allerdings immer noch in der Vorwärtsbewegung, so daß sie um
ihr Gleichgewicht laufen mußte. Sie stolperte hilflos und
unkontrolliert weiter und lief schließlich mit immer noch
erheblicher Energie an eine Hauswand. Ihr Kopf schlug gegen eine
Türkante und sie wäre wohl ernstlich verletzt worden, wenn
sie keinen Helm getragen hätte.
Um es zu wiederholen: Der
kleine Unfall ist
bei Schrittgeschwindigkeit passiert, bei echter
Schrittgeschwindigkeit. Ich war in der fahrenden Kolonne drin und
wir hatten ganz sicher nicht mehr als 10 km/h drauf.
Mit steigender Geschwindigkeit
vergrößert sich das Problem. Und es vergrößert
sich rasend schnell. Die Bewegungsenergie eines Autos steigt mit dem
Quadrat der gefahrenen Geschwindigkeit an: Doppelte
Geschwindigkeit heißt vierfache Energie, bei dreifacher
Geschwindigkeit haben Sie bereits den neunfachen Energiebetrag. Wenn
Sie mit 200 km/h „gemütlich auf der Autobahn
dahingleiten“ (Originalzitat aus einem
MPU-Gespräch mit einem notorischen
Geschwindigkeitsübertreter) bewegen Sie sich fünfmal so
schnell wie mit 40 km/h, schleppen dabei jedoch 25mal so viel
Bewegungsenergie mit sich herum.
Daß das keine
theoretischen
Überlegungen sind, kennen Sie aus der alltäglichen Erfahrung
des Beschleunigens: Von 0 auf 50 km/h sind Sie fast sofort,
von 50 auf 100 km/h dauert schon länger, 100 auf
150 km/h zieht sich und für 200 km/h braucht’s
dann schon etwas Geduld, wenn Sie nicht gerade einen Porsche
fahren.
Der
Mensch in seiner Überforderung
Der Haken für Sie als
Autofahrer ist:
Diese beim Beschleunigen in die Bewegung hineingepumpte Energie
müssen Sie beim Abbremsen wieder abfangen. Das heißt, der
nötige Bremsweg verlängert sich für Sie mit dem Quadrat
der erreichten Geschwindigkeit. Bei 200 km/h benötigen Sie
demnach einen 25mal längeren Bremsweg als mit 40 km/h.
Oder, um es an einem
handfesteren Beispiel
zu demonstrieren:
Stellen Sie sich einen Wagen
vor, der in der
Stadt mit 50 km/h vor sich hinfährt. Auf der linken Spur wird
er von einem anderen Wagen gleichen Typs überholt, der eine
Geschwindigkeit von 70 km/h einhält. In dem Moment, da sich
beide Wägen auf gleicher Höhe befinden, geschieht vor ihnen
etwas, das beide zur Vollbremsung zwingt. Beide Fahrer, gleich
reaktionsschnell, treten voll in die Eisen. Wie schnell - glauben Sie -
ist der Wagen auf der linken Spur an jenem Punkt, an welchem der
andere Wagen eben grade noch (vor dem Hindernis) zum Stillstand
gekommen ist?
Die Lösung ist
entsetzlich: Der
schnellere Wagen hat an der Stelle immer noch 50 km/h. Der wegen
der höheren Geschwindigkeit auch längere Fahrweg des zweiten
Wagens während der Schrecksekunde ist dabei noch gar nicht
mitgerechnet. Die auf den ersten Blick nur geringfügig höhere
Geschwindigkeit hat enorme Auswirkungen auf den nötigen Bremsweg.
Das Gemeine dran ist: Man kann
so etwas
ausrechnen, aber man kann sich die beim Autofahren erzeugten
Kräfte nicht vorstellen, kein Mensch vermag so etwas wirklich in
sein Hirn zu bringen. Auch Ingenieure fahren auf der Autobahn
200 km/h, obwohl sie wissen (es sich aber nicht wirklich
vorstellen können!), daß sie über 150 m bräuchten,
um im Falle eines Falles zum vollständigen
Stillstand zu kommen. (Und auch das nur, wenn alles optimal ist: Der
Fahrer, der Wagen, der Straßenzustand.) Auch Physiker, die es
eilig haben, zum
Kongreß der Unfallforscher zu kommen, hängen sich bei
150 km/h eine knappe Wagenlänge hinter deinen Kofferraum, um
dich zur Eile anzutreiben - obwohl sie genau wissen (es sich aber nicht
wirklich vorstellen können!), daß bei diesem Affenzahn ein
kleines Abrutschen von deinem Gaspedal die Katastrophe unausweichlich
macht.
Das ist der Knackpunkt an der
Geschichte:
Das
Autofahren ist für den Menschen eine prinzipielle
Überforderung!
Von seiner biologischen
Ausstattung, seinen
Möglichkeiten der Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und
Muskelreaktion ist der Mensch auf derart hohe Geschwindigkeiten, wie
sie im modernen Straßenverkehr alltäglich sind, nicht
eingerichtet. Kommt er mit 20 km/h noch einigermaßen klar,
wird es bei 30 km/h schon kritisch und schon bei schlappen
40 km/h ist eine rechtzeitige, sinnvolle Reaktion auf
plötzliche Ereignisse nicht mehr möglich. Ich kann nur dann
mit Höchstgeschwindigkeit über einen halbwegs belebten Platz
laufen, wenn die Passanten erschreckt vor mir auseinanderstieben.
Ansonsten wird es über kurz oder lang zu einem Zusammenstoß
mit - auch bei dieser Geschwindigkeit bereits - entsetzlichen Folgen
kommen.
Einen Menschen ans Steuer eines
modernen
Kraftfahrzeuges zu setzen ist, als würde man Hirn und Nervensystem
eines Igels in den Körper eines Geparden verpflanzen.
Korrekturen
Haben Sie schon einmal als
Beifahrer drauf
geachtet, was der Fahrer macht, wenn er den Wagen über eine
absolut gerade Strecke auf einer - es ist Sonntag morgens um sechs Uhr
- leeren Autobahn steuert? Sitzt er einfach da, die Hände am
Lenkrad, unbeweglich? Nein, seine Hände sind vielmehr in
ständiger Bewegung. Keine heftigen, dramatischen Bewegungen, aber:
Bewegungen - obwohl es eigentlich nichts zu steuern gibt. Die
Straße ist, wie gesagt, gerade und ohne Verkehr. Eigentlich
müßte der Wagen, wenn man die Lenkung festschrauben
würde, ohne weiteres geradeaus fahren und damit in der Spur
bleiben.
In Wirklichkeit tut er das aber
nicht. Schon
nach wenigen hundert Metern fährt der Wagen gegen die Leitplanken,
links oder rechts, das hängt vom Zufall ab; vom Zufall, der hier
nichts anderes ist als die Unkenntnis der genauen Daten und
Zusammenhänge.
Auch wenn wir die Tatsache
außer acht
lassen, daß Straßenbauer schnurgerade Straßen
bewußt so anlegen, daß sie leicht nach links oder rechts
geneigt ist, weil anders der Regen nicht schnell genug abfließen
würde, bleiben Störfaktoren, die eine ungeregelte
Geradeausfahrt verhindern:
*
Kein Straßenbelag ist
absolut eben. Auch auf einer nagelneuen, perfekt angelegten Trasse gibt
es immer irgendwelche kleineren oder etwas größeren
Unebenheiten, die sich auf die Räder übertragen und diese vom
Gradeausweg abbringen.
*
Kein Reifen ist absolut
gleichmäßig konstruiert oder präzise ausgewuchtet. Es
gibt immer kleine Unregelmäßigkeiten im Reifen oder im
runden Lauf des Reifens, die der ständigen Nachkontrolle durch den
Wagenlenker bedürfen.
Um also einen Wagen selbst auf
einer vom
sonstigen Verkehr geleerten, schnurgeraden Autobahn bei bestem Wetter
auf gerader Spur zu halten, muß der Autofahrer seine Position
innerhalb der Piste beobachten.
*
Er muß Abweichungen vom
geraden, gewünschten Weg registrieren,
*
muß diese Abweichungen
bewerten
*
und eine sinnvolle Korrektur
„planen“.
*
Seine Hände müssen
die Korrektur dann ausführen.
Und dann - oder vielmehr
gleichzeitig - ist
die Beobachtung, Bewertung und anschließende Korrektur der
Korrektur nötig.
Wie man sieht, ist es
schwierig, ein Auto
auf gerader Strecke zu halten. Dem routinierten Autofahrer wird dies
alles nicht weiter auffallen, dafür laufen diese Vorgänge
viel zu automatisch und nebenher ab. Aber wenn Sie sich noch an Ihre
ersten Fahrstunden, ihre ersten Kilometer erinnern, die Sie einen Wagen
selbst gesteuert haben, erinnern, werden Sie sich auch erinnern, wie
kompliziert das Steuern eines Autos ist.
Und Sie fahren normalerweise
nicht auf einer
breiten, abgesperrten und schnurgeraden Autobahn!
Der Herr mit dem BMW-Gesicht
tippt sich
schon die ganze Zeit aufgeregt an die Stirn. „Was“, so
frägt er sich, „soll der Unfug? ‘Prinzipielle
Überforderung’ und Igel und Gepard und was. Wenn es wirklich
so wäre, würde das Autofahren gar nicht klappen, dann
würde es ständig krachen. In Wirklichkeit funktioniert es
aber.“
Ja, in der Tat, das ist
Irritierende. In
Wirklichkeit funktioniert das Autofahren gar nicht mal schlecht. Womit
das eben Gesagte schlagend widerlegt wäre.
Ja?
Nein!
Daß es im
Straßenverkehr nicht
ständig kracht, daß trotz der „prinzipiellen
Überforderung“ der Unfall das seltene Ereignis bleibt, liegt
daran, daß der Straßenverkehr sehr, sehr streng
reglementiert und ritualisiert ist. Diese strengen und strikten Regeln
vereinfachen das „Spiel Straßenverkehr“ ganz
erheblich. Ich muß als Verkehrsteilnehmer nicht ständig auf
alles achten, ich darf sehr viel als selbstverständlich
voraussetzen. Ich muß mich aber auch beim Autofahren auf sehr
viele Dinge einfach blind verlassen können:
*
Der Wagen, der mir
entgegenkommt, bleibt ganz bestimmt auf seiner Seite, er darf ganz
einfach nicht plötzlich rüberfahren.
*
Der Fußgänger am
Straßenrand bleibt ganz bestimmt am Straßenrand, er darf
ganz einfach nicht jäh auf die Straße treten.
*
Der Motorradfahrer, der von
der Seitenstraße her kommt, wartet ganz bestimmt, bis ich vorbei
bin, er darf ganz einfach nicht plötzlich vor mir auf meine
Straße einbiegen.
*
Wenn ich mich der Bergkuppe
nähere und schließlich drüberfahre, dann darf
einfach unmittelbar dahinter ganz kein anderer Wagen stehen oder
langsam fahren.
Wenn irgendein Teilnehmer am
Straßenverkehr die Spielregeln des Straßenverkehrs nicht
kennt (noch nicht kennt, weil er Kind ist, nicht mehr kennt, weil ihm
das Alter den Überblick geraubt hat), entstehen ganz schnell
Situationen, die auch von Walter Röhrl oder den Gebrüdern
Schumacher nicht mehr gefahrlos zu bewältigen sind. Es gibt im
normalen Straßenverkehr unerwartete, absolut nicht vorhersehbare
Situationen, bei denen es für eine sinnvolle Reaktion ganz einfach
zu spät ist. Meine Frau hatte einmal auf der Autobahn an einer
Steigung einen Lkw überholt, als sie - direkt hinter einer
Bergkuppe - ein offensichtlich von einem anderen Lkw gefallenes
Schränkchen vor sich auf der Fahrbahn liegen sah! Nur die
Tatsache, daß sie wegen der Steigung und der mangelnden
PS-Stärke unseres Wagen relativ langsam überholte verhinderte
einen dann wahrscheinlich tragischen verlaufenen Unfall.
In dieser Zeit der Allgegenwart
von
Kraftfahrzeugen ist es elementar und überlebenswichtig, schon den
kleinen Kindern die Verkehrsregeln beizubringen. Autofahrer können
sich bei den üblicherweise gefahrenen Geschwindigkeiten nicht auf
undisziplinierte Lebewesen und regelwidrige Objekte wie Kinder, Greise,
Tiere und auf der Fahrbahn herumliegende Schränke einstellen.
Nur solange diese strengen
Spielregeln
strikt eingehalten und von den Autofahrern
„konservativ“ ausgelegt werden, haben wir eine
reelle Chance, den Spielplatz Straßenverkehr auch diesmal wieder
lebend zu verlassen.
Das Tragische an der jetzigen
Situation ist
aber, daß das Autofahren für sehr viele Leute nicht nur eine
Art der Fortbewegung ist, sondern auch eine Leidenschaft. Nicht nur
für die offensichtlichen Racing-Fans, sondern auch für jene,
die, auf Befragen, jeden Spaß am Fahren strikt von sich weisen.
Das Auto ist nicht nur eine wunderbare Möglichkeit, schneller als
mit einer Kutsche, trockener und staubfreier als mit einem Motorrad von
Punkt A nach Punkt B zu kommen, es ist auch ein Sportgerät. Und
viele Autofahrer, gerade die leidenschaftlichen Autofahrer, die
„guten“ Autofahrer, die Vielfahrer fahren auf der
Straße in erster Linie nach sportlichen Gesichtspunkten.
Die Erziehung der Kinder
paßt sich dem
an.
Meine Kinder waren einst mit
einem
Videospiel zugange, einem Rennspiel, mit „normalen“ (wenn
auch rallyemäßig aufgemotzten) Autos auf normalen
Straßen, bei dem es darum ging, möglichst schnell von da
nach dort zu kommen. Die Jagd ging durch eine karge, grüne
Landschaft, wobei die Straße immer wieder auch durch Dörfer
führte. Nach einer Weile - solange brauchte ich, bis mir selber
das Merkwürdige an dem Spiel aufgefallen war - fragte ich meine
Söhne, ob ihnen an den Dörfern etwas auffalle. - Sie
antworteten, daß nicht. - Sie sähen also keinen Unterschied
zwischen diesem Dorf jetzt und einem ihnen bekannten Ort? - Na ja, der
Ort bestünde nur aus unverputzten Steinhäusern. - Gut, wir
sind wahrscheinlich in der Bretagne oder wo, dort baue man eben so. Und
sonst? - Na ja, die Straße im Ort bestehe aus Kopfsteinpflaster.
- Das sei nicht ganz selbstverständlich, gebe es aber woanders
auch. - Das Dorf sei sehr eng und verwinkelt. - So seien Dörfer
manchmal. Aber das meinte ich alles nicht. Was ich meinte sei: In
diesem Dorf wohnen anscheinend keine Menschen. Niemand geht auf der
Straße, keiner überquert sie, kein Traktor mit Pflug
fährt hinter der nächsten, engen Kurve ganz langsam vor sich
hin.
Du jagst mit Höllentempo
durch den Ort
und kein Mensch ist auf der Straße. Deine einzige Aufgabe als -
virtueller - Autofahrer besteht in diesem Videospiel darin, den Wagen
beim jeweils höchstmöglichen Tempo auf der Piste zu halten.
Schaffst du das, dann hast du alles geschafft, dann kannst du eine neue
Bestzeit aufstellen.
In Wirklichkeit wohnen in
Dörfern und
Städten aber Menschen und sie benutzen ihren Wohnort als Platz zum
Leben. Sie gehen auf der Straße, sie überqueren sie, sie
sind normalerweise nicht mit den trainierten Reflexen eines
Rallyefahrers ausgestattet.
Anders als im Videospiel,
anders auch als im
Kopf eines „sportlichen“ Autofahrers ist die Straße
nicht nur eine Piste, sondern auch - nein: vor allem - ein Lebensraum.
Der gute Autofahrer trägt dem Rechnung, während sich der
einfältige Autofahrer an den Bedingungen des Rennringes oder der
abgesperrten Rallyestrecke orientiert.
Im vorigen Kapitel war die Rede
vom
„guten Autofahrer“. Die Frage ist, was man unter diesem
Begriff zu verstehen hat.
Bei Befragungen unter
Führerscheininhabern macht man die verblüffende Erfahrung,
daß sich fast 90 % der befragten Autofahrer selber für
gute bis sehr gute Autofahrer halten, mehr als die Hälfte davon
geht sogar so weit, sich selbst als „sehr gut“ einzustufen.
Das ist offensichtlicher Unfug.
Was aber
macht dann einen Autofahrer zum guten Autofahrer?
Im Untersuchungsgespräch
einer MPU
erzählte mir einmal ein junger Mann von Anfang zwanzig, dem wegen
mehr als 18 Flensburger KBA-Punkten der Führerscheinentzug drohte,
folgendes Erlebnis:
Er sei auf der Autobahn
München - Salzburg mit um die 200 km/h gefahren.
Dieser Autobahnabschnitt gilt, zurecht, als eine der meistbefahrenen
und stauträchtigsten Autobahnen Bayerns. Direkt hinter einer
Bergkuppe habe sich ein Stau gebildet gehabt. Wegen der Bergkuppe habe
er den Stau erst sehr spät gesehen und sei sofort auf die Bremse
getreten. Ein rechtzeitiges Anhalten vor dem hintersten Wagen sei -
trotz kunstgerechter Intervallbremsung - nicht mehr möglich
gewesen, so daß er auf die Standspur habe ausweichen müssen,
wo er nach heftigem Bremsen und Bremsen schließlich zum Stehen
gekommen sei.
Ist dies ein guter Autofahrer?
Es scheint so, denn aller
positiven
Selbsteinschätzung zum Trotz hätte der überwiegende
Großteil der deutschen Autofahrer ein solches Abenteuer nicht
unfallfrei überstanden. Sie wären entweder in der Panik voll
auf die Bremse gestiegen und dann auf den letzten Wagen des Staus
geprallt oder sie hätten den Wagen zwar herumgerissen, ihn dadurch
aber rettungslos in’s Schleudern gebracht.
Nur ein guter, ein sehr guter
Autofahrer
wird aus einer solchen Situation heil herauskommen.
Der Klient selber sah das auch
so. Denn
diese Geschichte stand nicht in den von der Führerscheinstelle
übersandten Akten, sie war kein Bestandteil der Vorwürfe
gegen ihn. Der Klient erzählte die Geschichte vielmehr als Beleg
für seine überragenden Fähigkeiten als Autofahrer. Ich,
der große Autofahrer, werde auch mit kitzligen Situationen
fertig. Auf die Idee, die Sache umgekehrt zu sehen, ist er nie
gekommen: Ich, der noch unreife Autofahrer, bin da völlig
unnötigerweise in eine kitzlige Situation gekommen, die
glücklicherweise nochmal gut ausgegangen ist. Ein guter, ein
wirklich guter Autofahrer ist deshalb ein wirklich guter Autofahrer,
weil er in eine solche Situation nicht hineinkommt!
Kein guter Autofahrer
fährt auf einer
*
bekanntermaßen
vielbefahrenen,
*
berüchtigt
stauträchtigen,
*
geländebedingt bergigen
und
*
ausgesprochen kurvigen
Autobahn 200 km/h.
Nein, seien wir gerecht: Auch
gute
Autofahrer tun dies, denn auch gute Autofahrer machen Fehler. Aber:
Gute Autofahrer lernen daraus. Sie lernen: Ich, der nachlässige
Autofahrer, bin da völlig unnötigerweise in eine kitzlige
Situation gekommen, die glücklicherweise nochmal gut ausgegangen
ist.
Der sportliche Blick auf den
Straßenverkehr mißt die Fähigkeiten eines Menschen als
Autofahrer daran, wie gut er auch mit kitzligen Situationen noch
klarkommt. Der gute Autofahrer ist der fahrtechnisch gute Autofahrer,
*
der über hervorragende
Reflexe verfügt,
*
diese Reflexe speziell in
Bezug auf das Auto trainiert hat,
*
der den Wagen aus dem
Effeff
beherrscht,
*
der auch noch in
gefährlichen Situationen die Übersicht behält.
Um aus normalen
Führerscheininhabern
gute Autofahrer zu machen, um auch die guten Autofahrer weiter zu
perfektionieren bieten ADAC und verschiedene Autofirmen immer wieder
Sicherheitstrainings und andere Kurse an.
Eine feine Sache: Nachdem die
Autos von
Modelljahr zu Modelljahr immer sicherer werden, die Straßen immer
besser ausgebaut sind, sollen nun auch die Fahrer immer kompetenter
werden.
Und doch: Der Gewinn an
Fahrzeugsicherheit
geht mit einem gestiegenen Bewußtsein der eigenen Sicherheit
einher. Weil ich zusätzlich zum Sicherheitsgurt im neuen Wagen
auch einen Airbag und Seitenaufprallschutz habe, sind meine Chancen,
einen Unfall zu überleben gestiegen.
Fein.
Und weil ich im neuen Auto
sicherer bin als
im alten, kann ich auch ein bißchen flotter in die Kurven
reinfahren.
Nicht so fein.
Ganz entsprechend geht auch
jeder Gewinn an
fahrerischer Kompetenz mit einem Gewinn an fahrererischem
Selbstbewußtsein einher. Wenn mein fahrerisches Können nach
einem Sicherheitstraining um 5 % gestiegen ist und ich deswegen um
5 % mehr riskiere als zuvor, so war der Kurs für die Katz.
Steigt mein Selbstbewußtsein gar stärker als mein
tatsächliches Können, wird das Sicherheitstraining ganz
schnell zum Sicherheitsrisiko.
Nichts gegen Schleuderkurse
für
Glatteis, schon überhaupt nichts dagegen, daß einer
übt, auch bei einem geplatzten Reifen noch heil zum Stillstand zu
kommen.
Aber: Es ist nicht das
spektakuläre
Fahrgeschick, das den guten, d. h. sicheren und wenig
unfallträchtigen Autofahrer ausmacht. Der gute, der sichere
Autofahrer ist der unauffällige Autofahrer, die graue Maus.
Dementsprechend sind die
unfallträchtigste Bevölkerungsgruppe nicht die tatterigen
Opas mit den schwachen Reflexen, sondern die 18– bis
25jährigen männlichen Autofahrer. Frauen - und hier ist ein
männliches Vorurteil ausnahmsweise mal richtig - sind
fahrtechnisch und vom „sportlichen“ Standpunkt
aus im Schnitt tatsächlich schlechter als Männer.
Andererseits sind Frauen erheblich weniger unfallträchtig als
Männer. Nicht trotz ihrer geringeren sportlich-fahrerischen
Kompetenz, sondern wegen ihr.
Nichtsdestotrotz wäre die
Idealbesetzung für einen Autofahrer freilich einer, der fahren
kann wie Walter Röhrl in seinen besten Zeiten, im normalen
Straßenverkehr aber tatsächlich fährt, wie Herr Maier,
wenn er die ganze Familie im Kombi sitzen hat.
Im Zweifelsfall aber, damit das
auch klar
ist, fahre ich lieber mit Herrn Maier als mit Walter Röhrl, wenn
er auf der Straße Rallye spielt.
Die Bundesanstalt für
Straßenwesen (BASt) hat im Rahmen einer statistischen
Untersuchung einmal die in Unfälle verwickelten Autos nach
Fahrzeugtypen aufgeschlüsselt. Das Ergebnis war, daß sehr
stark motorisierte Autos (über 100 PS) drei– bis viermal so
häufig in Unfälle verwickelt werden als sehr schwach
motorisierte Wägen (unter 50 PS).
Das ist ein sehr
verblüffendes
Ergebnis, denn eigentlich wäre das Gegenteil sehr viel eher zu
erwarten, sind doch die starken Autos immer auch die teureren Autos.
Damit sind sie
*
in der Regel
größer
und schwerer, liegen schon dadurch besser auf der Straße,
*
stabiler, weil aufwendiger
verarbeitet,
*
eher mit ABS und sonstigen
neuesten Errungenschaften der Sicherheitstechnik ausgestattet.
*
Die höhere
Motorleistung
erlaubt es, das Überholen kürzer und damit sicherer zu machen.
Kurz: die starken Autos sind
wegen Airbag
und Seitenaufprallschutz nicht erst dann sicherer, wenn was passiert
(passive Sicherheit), sondern tragen erheblich dazu bei, daß
vieles gar nicht erst passiert (aktive Sicherheit).
Um zu verstehen, warum die
sicheren Autos
die unfallträchtigeren sind, stellen Sie sich einmal (und sei es
in Gedanken) an einem sonnigen Tag an einen größeren
Parkplatz. Beobachten Sie die Menschen, die kommen, um in ihre Autos zu
steigen und versuchen Sie, vorauszusagen, wer in welches Auto steigen
wird.
Nach einiger Übung werden
Sie selbst
über Ihre Treffsicherheit verblüfft sein. Der Typ mit den
langen, ungepflegten Haaren und den ausgebleichten Jeans steigt nicht
in den Mercedes 230 SE ein, sondern in eine Ente oder einen alten Golf.
Der Herr im Anzug mit der farblich dazu passenden Krawatte ist schon
eher für den Mercedes passend - und tatsächlich steigt er in
einen fast neuen und sehr gepflegten Audi 100 ein.
Bestimmte Autos gehören zu
bestimmten
Menschen. Es ist dabei nicht nur eine Frage der finanziellen
Verhältnisse, welchen Typ Auto jemand fährt. Wenn ich 15.000
Mark für den Autokauf zur Verfügung habe, dann kann ich mir
dafür einen neuen japanischen Kleinwagen kaufen, einen noch
relativ neuen Golf oder einen schon etwas älteren Audi 80. Wenn
ich es aber drauf anlege, ist auch ein schon recht alter BMW mit 180 PS
drin.
Mit einer gewissen Unsicherheit
müssen
wir leben. Passieren kann immer etwas, auch der Perfektionist macht
Fehler, der Bedächtigste macht sich einer Unbesonnenheit schuldig,
auch neue, gepflegte Bremsen können versagen.
Es gibt also ein Grundrisiko,
im
Straßenverkehr einen Unfall zu verursachen oder zumindest zu
erleiden. Gegen dieses Grundrisiko ist kein Kraut gewachsen, es ist
Bestandteil des Lebensrisikos: Schicksal.
Ein kleinerer Teil der
Unfälle geht zu Lasten dieses Grundrisikos.
Der wahrscheinlich weitaus größere Teil der Verkehrsopfer
geht auf akutes oder systematisches Fehlverhalten zurück. Akutes
Fehlverhalten ist dabei eine momentane, insgesamt bei dem betreffenden
Verkehrsteilnehmer eher seltene Unachtsamkeit, während unter
systematischem Fehlverhalten der chronische Regelverstoß zu
verstehen ist.
Das Gefährliche daran ist
nicht,
daß jemand irgendwann Fehler macht. Jeder macht immer wieder
irgendwann irgendwelche Fehler, damit müssen wir leben, auch im
Straßenverkehr. Die meisten Situationen, mit denen wir es im
Leben (oder im Straßenverkehr) zu tun haben, sind aber
glücklicherweise ziemlich fehlertolerant, das Schicksal verzeiht
uns. Das heißt, der Fehler führt in der Regel nicht zur
Katastrophe, führt meistens sogar nicht einmal überhaupt zu
einem Schaden.
*
Wir sind verträumt und
deshalb unachtsam, erkennen das Bremsen des Vordermanns relativ
spät - aber wir kommen noch rechtzeitig zum Stehen.
*
Wir sehen das
Vorfährt-gewähren-Schild, ohne es eigentlich wahrzunehmen,
fahren einfach weiter - aber es kommt gerade kein anderer daher, mit
dem wir zusammenstoßen könnten.
*
Wir fahren aus der
Parklücke heraus, ohne uns wirklich gut umgeschaut zu haben, ob
keiner kommt - und es kommt meist wirklich keiner.
Fehler, auch grobe Fehler,
machen sowohl der
gute als auch der schlechte Autofahrer. Der Unterschied ist
„lediglich“ der, daß der gute Autofahrer seine Fehler
selten, grobe Fehler gar sehr selten macht, während der schlechte
Autofahrer eben gerade dadurch zum schlechten Autofahrer wird, weil
seine Fehler sich häufen.
Fehler führen selten zum
Unfall.
Seltene Fehler führen wahrscheinlich nie zum Unfall. Fehler, die
oft vorkommen, geben dem Schicksal viele Gelegenheiten, sich gegen uns
zu entscheiden, sie führen irgendwann zum Unfall. Es ist eine
Frage der Statistik.