Das
Orakel von Delphi, die Pythia und das Zicklein
In
seinem Buch "Das Geheimnis der Orakel" beschreibt Philipp Vandenberg
einen merkwürdigen Vorgang vor der eigentlichen Wahrsagesitzung (die
Seitenzahlen beziehen sich auf die Hardcoverausgabe von 1979):
"Die
Prozession, voran zwei Propheten, die Oberpriester, dahinter die Pythia,
flankiert von den Hosioi, den Mitgliedern des vornehmen Fünfmännerrates, danach
eine Schar einfacher Orakeldiener, hatte jetzt den Apollon-Tempel erreicht. Die
Pythia legte jetzt ihren Purpurumhang ab, sie trug nur noch ein schlichtes,
weißes, kurzes Kleid. Auf dem Altar der Hestia in der Mitte des Tempels loderte
ein Feuer. Zwei Orakeldiener schleppten ein lebendes Zicklein herein. Sie setzten
es auf dem weißen Marmorboden vor dem Altar ab. Hilflos schaute es in die Runde.
Da trat einer der Propheten hinzu und besprengte das Tier mit eiskaltem Wasser.
Das Zicklein reagierte daraufhin mit Zittern. Das war sein Todesurteil, für die
Priester aber ein günstiges Omen. Hätte das Tier die Wasserspritzer gelassen
und ohne Regung hingenommen, so wäre dies als ungünstiges Vorzeichen gewertet
und die Orakelbefragung für diesen Tag abgesagt worden." (S.
164 f.)
Vandenberg
zitiert dann den griechischen Schriftsteller STRABON: "Man sagt, das
Orakel sei eine lotrechte Höhlung mit einer nicht eben großen Öffnung. Daraus
steigt ein Dunst auf, der Entrückung hervorruft, und über der Öffnung steht ein
hoch aufgerichteter Dreifuß; ihn besteigt die Pythia, atmet den Dunst ein und
prophezeit." (S. 178 f.)
Und
dann PLUTARCH: "Auch glaube ich, daß es mit der Ausdünstung nicht
immer und durchweg gleich bestellt ist, sondern daß manchmal eine Abnahme und
dann wieder eine starke Zunahme stattfindet. Der Beweis, den ich dafür anführe,
hat zu Zeugen viele Fremde und alle, die im Dienste des Heiligtums stehen.
Denn das Gelaß, in dem man diejenigen, die den Gott befragen, sich niedersetzen
läßt, erfüllt sich, nicht häufig und nicht zu bestimmten Zeiten, sondern von
ungefähr in längeren Abständen mit einem Wohlgeruch und einem Hauch ähnlich
den Düften, die die edelsten und kostbarsten Parfüms entsenden und die dem
Allerheiligsten wie einer Quelle entströmen." (S. 179)
Vandenberg
selbst qualifiziert den Zicklein-Test als abergläubisches Ritual ohne jeden
pragmatischen Wert ab ( S. 277). Was auch sollte die momentane Befindlichkeit
eines solchen Jungtieres mit der Wahrsagekraft der Pythia zu tun haben? Und
doch schildert er (S. 183) einen Vorfall, bei dem der Zicklein-Test nicht
ernstgenommen wurde, was die Pythia das Leben kostete. Das Zicklein reagierte
nicht und "die Pythia beobachtete all dies mit Entsetzen".
Sie war nicht einfach mißgelaunt, weil heute der Zaubertrick nicht
funktionieren würde, sie hatte vielmehr Schiß vor dem, was kommen mußte und
dann auch tatsächlich kam. Nun liegt natürlich der Verdacht nahe, dies sei
alles psychosomatisch gewesen, Autosuggestion, self-fulfilling prophecy; sie
glaubte, jetzt sei das Weissagen unmöglich und gefährlich und also wurde
das Weissagen gefährlich und unmöglich, tödlich schließlich.
Lassen
wir uns aber einmal auf die antiken Quellen ein, glauben wir, was sie sagen.
Die Pythia stand demnach im Dienst unter Drogen, sie war angeturned durch
betäubende Dämpfe, welche aus dem Erdspalt kamen (die Entstehungslegende des
Orakels nimmt auf diese Dämpfe Bezug). Diese Dämpfe quollen offensichtlich
recht unregelmäßig aus dem Erdspalt, versiegten aber anscheinend nie zur Gänze.
Hielt sich die Ausdünstung im Rahmen, dann konnte die Pythia in Ruhe und mit
Erfolg ihrem Beruf nachgehen. Wie die Story von PLUTARCH zeigt (S. 183), war
eine Überdosis des Stoffes aber äußerst gefährlich und - vor allem - sehr schnell
gefährlich: "...sogleich aber bei ihren ersten Antworten merkte
man, daß sie (...) von einem bösartigen Hauch erfüllt war..." (S.
184). Demnach wäre es zu gefährlich gewesen, die Pythia oder einen der Priester
kurz mal probeschnüffeln zu lassen und dann erst die Show zu beginnen oder
abzublasen. Einen Sklaven oder sonst einen Wicht konnte man auch nicht nehmen,
weil die Drogenhöhle ja heilig war. Also...
Also
verfiel man auf den Zicklein-Test. In der Schilderung des Vorgangs durch
Vandenberg (S. 164 f) findet sich kein Hinweis darauf, daß das Zicklein
irgendwie gefesselt war. Man setzt es auf dem Marmorboden ab und es bleibt
sitzen (oder stehen), läuft jedenfalls nicht weg. Demnach muß es auf jeden Fall
ein bißchen bekifft sein. Und war wohl auch leicht zu bekiffen, man mußte zum
Test gar nicht hinunter in das Adyton gehen, die ca. 6 m Entfernung vom
Hestia-Altar zum Erdspalt reichten aus für den Test. Wenn ich mich recht
entsinne, haben Ziegen eine feuchte, empfindliche Nase, Jungtiere gleich gar
sind schon mit sehr geringen Mengen an irgendwelchen Wirkstoffen zu beeindrucken.
Man nimmt also diesen hochempfindlichen Bioindikator (viel empfindlicher als
ein erwachsener Mensch) und besprenkelt ihn nach der Exposition mit eiskaltem
Wasser. Wenn das Tier dann nicht zittert, ist allen klar, daß es eine Überdosis
erwischt hatte, das Weissagen für heute also zu gefährlich war.
Der
Zicklein-Test bekommt unter diesem Blickwinkel einen äußerst pragmatischen
Wert. Auf ihn zu achten hat eine völlig andere Qualität, als das Verschieben
einer Schlacht wegen einer ungünstigen Konstellation der Sterne.