Darennt
Wer in den fünfziger, sechziger Jahren
mit einem Eingeborenen durch das südliche Niederbayern fuhr, wurde
hart mit der Vergänglichkeit des Menschen konfrontiert. An jeder
dritten scharfen Kurve - deren es viele gab, vor Erfindung der
Geraden - deutete der Einheimische auf ein Gedenkkreuz am
Straßenrand und sagte: "Do hot se vor finf Joan oana
darennt!" (Da hat sich vor fünf Jahren einer derrannt.) Oder
vor drei oder zehn Jahren oder neulich erst, wenn lediglich Blumen den
Platz für das künftige Gedenkkreuz markierten. Und ab und zu,
an einer besonders engen Kurve, hat dein Fremdenführer mit
ratloser Geste gemeint: "Des wundat me eingdle,
daß se do no koana darennt hot." (Es wundert mich
eigentlich, daß sich hier noch keiner derrannt hat.)
"Se darenna" oder auf
deutsch: "am Steuer eines Kraftfahrzeuges durch
übermäßige Geschwindigkeit ums Leben kommen" war
für den motorisierten Landbewohner ein Schicksal, mit dem er immer
zu rechnen hatte, obwohl damals Autos noch erheblich seltener
waren als heute.
Das lag zum Teil sicher daran, daß
seinerzeit weder Sicherheitsgurt, noch ABS und Airbag erfunden waren,
wohl aber bereits das Bier.
Einen weiteren Grund für die vielen
tödlichen Verkehrsunfälle jener Zeit sehe ich darin,
daß damals Autos wesentlich seltener waren als heute und der
Niederbayer an sich zu einer weniger optischen als vielmehr
statistischen Fahrweise neigt.
Der etwas dunkle Sinn dieser Bemerkung
erschließt sich besser, wenn wir uns die seinerzeit ebenfalls
recht häufigen Verkehrsunfälle an Bahnübergängen
ansehen.
Bahnübergänge waren im Rottal -
und sind es noch - weitgehend schienengleich und unbeschrankt. Bei
kleineren Straßen war so gut wie nie ein Warnblinklicht
vorhanden, das weiß-rote Kreuz mußte es tun.
Kein Wunder also, möchte man denken,
daß an diesen Bahnübergängen in schöner
Regelmäßigkeit Autos vom Zug erfaßt wurden. Das
Wundern beginnt, wenn man sich einen solchen Bahnübergang bei
Tageslicht und Sonnenschein besieht. Die Eisenbahn macht im Rottal
relativ wenige Kurven und diese wenigen sind langgezogen und daher
übersichtlich. Es kommt hinzu, daß der Zug vor jedem
Übergang ein Pfeifsignal gibt. Nachts sind die Lichter des
herannahenden Zuges weit zu sehen, in der ländlichen Gegend ist es
dann so ruhig, daß er von weitem schon zu hören ist.
Und doch sind die Unfälle passiert.
Bemerkenswerterweise
waren es fast immer Einheimische, die verunglückten, Leute aus der
unmittelbaren Umgebung des Unfallortes. Die beste Theorie,
die mir zur Erklärung dieser erstaunlichen Tatsache einfällt,
ist der Umstand, daß der Rottaler zum einen auf den
richtigen Gang seiner Uhr Wert legt, zum anderen großes Vertrauen
hat in die Ordnung der Welt im Allgemeinen und der Bahn im Besonderen.
Auch wenn der Fahrplan der Bahn zweimal im
Jahr geändert wurde, blieben die Zugverbindungen im Rottal
über die Jahre hinweg gleich. Es kam hinzu, daß sich der
Zugverkehr doch eher in Grenzen hielt, so daß der Rottaler den
für ihn wichtigen Fahrplanausschnitt ziemlich gut im Kopf haben
konnte - und hatte.
Wenn der Rottaler Bauer am späten
Nachmittag auf seinem Feld arbeitete und den sich nahenden Zug
hörte, so wußte er, daß es jetzt acht Minuten
nach fünf sein mußte, weil dies nur der Fünf-Uhr-Zug
aus München sein konnte. Und wenn er umgekehrt um 16:15 h an
den Bahnübergang kam, wußte er, daß er nicht auf einen
eventuell sich nahenden Zug achten mußte. Der Dreiviertelvier-Zug
aus Passau war längst durch und der Fünf-Uhr-Zug aus
München noch lange nicht fällig. Da demnach logischerweise
gar kein Zug kommen konnte, achtete der
ortsansässige Autofahrer um diese Zeit nicht auf einen Zug, der -
wie gesagt - gar nicht kommen konnte.
Wenn aber...
Wenn zum Beispiel der Dreiviertelvier-Zug
aus Passau eine halbe Stunde Verspätung hatte und an einem
Bahnübergang auf einen jener Einheimischen traf, die Uhr und
Gedächtnis mehr vertrauten als Augen und Ohren - dann waren die
Grenzen der statistischen Fahrweise erreicht.
Diese Art, an die Sachverhalte des Lebens
heranzugehen, mag auch manche der damaligen Unfälle auf der
Straße erklären: Die wenigen Menschen, die über ein
Automobil verfügten, schnitten unübersichtliche Kurven, weil
Erfahrung sie gelehrt hatte, daß an diesem Ort und zu dieser
Stunde ein entgegenkommendes Fahrzeug ausgesprochen unwahrscheinlich
sei.Oder sie
wußten aus eigener Anschauung, daß trotz hoher
Geschwindigkeiten aus dieser Kurve noch nie einer
rausgeflogen war. So kann man auch die Gedenksteine (oder Marterln) als
eine Art Verkehrszeichen verstehen - in dem Sinn nämlich,
daß sie dem Kundigen anzeigen: Hier ist schon mal jemand aus der
Kurve geflogen, geh ein Stück vom Gas runter.
Sie mögen lachen und an soviel
Seinszuversicht nicht glauben wollen. Ein Bekannter, drauf aufmerksam
gemacht, daß er beim Linksabbiegen in sein Grundstück am
Stadtrand nie blinken würde, gab zur Antwort, das Blinken sei
in diesem speziellen Falle nicht nötig, da ohnehin jeder
wisse, daß er hier immer in sein Grundstück abbiege.